Wohnhausbau im osmanischen Istanbul

Wohnhausbau im osmanischen Istanbul

 

Autor/en:        Wolfgang Müller-Wiener, Johannes Cramer

Verlag:           Michael Imhof Verlag

Erschienen:    Petersberg 2021

Seiten:            280

Buchart:         Hardcover

Preis:              € 49,95

ISBN:             978-3-7319-1035-0

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

In der Rangfolge der sich am schnellsten verändernden Metropolen dieser Welt dürfte Beijing wohl den Spitzenplatz einnehmen. Während man Anfang der 90er Jahre des 20 Jahrhunderts, ausgehend von der Verbotenen Stadt, dem Kaiserpalast und altem Zentrum der Stadt noch kilometerlang durch schmale Gassen, gesäumt von den traditionellen chinesischen Hofhäusern, den einstöckigen Hutongs, schlendern konnte, bevor man auf eine dem modernen Verkehr dienende Straße und erste Hochbauten stieß, ist von diesem ländlich anmutenden Ambiente heute so gut wie nichts mehr vorhanden. Beijing ist, wie andere chinesische Großstädte zu einer hypermodernen Metropole geworden, die sogar manch progressiven modernen Stadtplaner erstaunen lässt. In der genannten Rangfolge dürfte Istanbul ebenfalls einen der Spitzenplätze einnehmen. War noch am Anfang des 20. Jahrhunderts der überwiegende Teil des auf der Halbinsel zwischen Marmarameer und Goldenem Horn gelegenen Altstadtgebietes ebenso wie die Ufer des Bosporus mit Holzhäusern bebaut, haben ungebremstes Wachstum, eine progressive Stadtentwicklungspolitik, explodierende Grundstückspreise und eine stark zunehmende Verdichtung dazu geführt, dass heute Appartementblocks und Hochhäuser das Stadtbild der Wohnquartiere prägen. Die Publikation über den Wohnhausbau im osmanischen Istanbul, der eine jahrzehntelange Feldforschung und eine exakte Bauaufnahme von 550 traditionellen Holzhäusern zugrunde liegt, ist ein wertvolles Dokument einer gar nicht weit zurückliegenden aber dennoch vergangenen Epoche.

Auch von den während der Bauaufnahmen von 1972 bis 1982 dokumentierten Holzbauten sind heute, vierzig Jahre später, nur noch wenige und diese meist in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls erhalten. Dass die historische Halbinsel mit den traditionellen Wohnbezirken Süleymaniye und Zeyrek in das Welterbe der UNESCO aufgenommen wurde, hat den aus Stein errichteten Palästen, Monumenten und Moscheen geholfen aber der Erhaltung einer bürgerlichen Wohn- und Baukultur nur in wenigen Einzelfällen gedient.

Das federführend vom Deutschen Archäologischen Institut in Istanbul und ihrem langjährigen und früh verstorbenen Direktor Wolfgang Müller-Wiener (1923-1991) betreute und von dem Leiter des Fachgebietes Bau- und Stadtbaugeschichte an der TU Berlin, Johannes Cramer, zur Publikation gebrachte Projekt befasst sich primär mit den von der Forschung bisher vernachlässigten Wohnbauten des osmanischen Mittelstandes. Seltene historische Aufnahmen zeigen hier ein Meer von individuell gestalteten Holzhäusern, aus denen sich nur die steinernen Moscheen mit ihren himmelragenden Minaretten erheben. Auf Detailfotos kann man schmale, natursteingepflasterte Straßen mit zwei- und dreistöckigen Holzbauten erkennen, deren Obergeschosse sich auskragend in den Straßenraum erstrecken. Hohe Bäume in den hinter Mauern versteckten Gärten spenden Schatten und betonen den ländlichen Eindruck. Ein verlorenes Idyll, so könnte man meinen, doch historische Berichte ebenso wie die exakte Bauaufnahme des verbliebenen Bestandes sprechen eine andere Sprache. „Elende hölzerne Buden“, so berichtet ein Besucher des späten 18. Jahrhunderts und die genaue technische Untersuchung offenbart eine fast primitive, meist nur durch zahlreiche geschmiedete Nägel zusammengehaltene Ständerbauweise bar jeglicher in Zimmermannstechnik ausgeführter Holzverbindungen. Die Lebensdauer dieser Holzbauten war denn auch auf wenige Jahrzehnte beschränkt und viele Brände, oft genug auch dramatische Großfeuer, die ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legten, haben diese vielfach noch drastisch verkürzt. Eine dieser, nennen wir sie mal „flexiblen“ Bauweise zugeschriebene Erdbebenresistenz und die gänzlich andere Einstellung islamisch geprägter Menschen zu Stadt- und Wohnhausplanung mögen diese Feststellungen relativieren.

Kein Wunder also, dass der untersuchte Bestand kaum weiter zurückreicht als in das späte 19. Jahrhundert, wenn er nicht sogar aus dem frühen 20. Jahrhundert stammt. Das Ergebnis der bautechnischen Aufnahme erscheint dennoch repräsentativ, denn die konstruktiven Details von Wänden, Böden und Decken, von Treppen, Fenstern und Türen, von Innen- und Außenverkleidungen und Dachkonstruktionen dürften sich über die Jahrhunderte kaum wesentlich verändert haben. Viel interessanter ist, dass aus der sozialen Situation und den finanziellen Möglichkeiten des Hausbesitzers aber auch nach der Lage des Hauses innerhalb des Stadtgebietes eine Typologie der Häuser abgeleitet wird, die lebendige Einblicke in die Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner zulässt. So ist etwa die Trennung des Lebensbereichs der engeren Familie und des Bereichs, zu dem Außenstehende und Besucher Zutritt haben, fast durchweg verwirklicht. Die Art der Wasserversorgung, der Gang zum öffentlichen Brunnen oder die Versorgung durch Hausbrunnen oder Zisterne, die Existenz und Ausführung von Toiletten, Waschbecken und Bädern und natürlich das Vorhandensein, die Lage und Einrichtung von Küchen – diese bestenfalls zusammen mit dem Hammam im separaten Gartenhaus untergebracht – erzählen über Mühsal aber auch Annehmlichkeiten des täglichen Lebens, während die Inneneinrichtung mit Wandschränken, Nischen, Wand- und Deckenmalereien sowie mit Dekorelementen wie Leisten, Stuck, Konsolen und Kapitellen sozialen Status und soziales Gefälle sichtbar machen. Einige Landhäuser, sog. „sarays“, und repräsentative Stadtvillen, „konaks“, wohlhabender Istanbuler Bürger, ebenfalls in traditioneller Holzbautechnik errichtet, runden das Bild nach oben.

Der in der Reihe der Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege erschienene Band über den Wohnhausbau im osmanischen Istanbul ist ein wichtiges Quellenwerk für Architekten und Historiker, für Islamwissenschaftler und Orientalisten, vor allem aber auch ein Lese- und Bilderbuch für alle, die dem Zauber und der Faszination von Istanbul, einer der bedeutendsten und aufregendsten Metropolen dieser Welt, erlegen sind.

 

 

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