Das Herz der Welt – Eine Reise zum letzten verborgenen Ort

Autor/en: Jan Baker
Verlag: Pendo Verlag
Erschienen: München und Zürich 2006
Seiten: 640
Ausgabe: Hardbound
Preis: € 24.90
ISBN: 978-3-86612-097-6
Kommentar: Michael Buddeberg, Juni 2007

Besprechung:
Pemakö, das Nebelreich der 5000 Meter tiefen Tsangpo-Schlucht zwischen Tibet und Indien, ist ein Ort der Sehnsucht für tibetische Pilger ebenso wie für westliche Abenteurer und Naturforscher. Schon der indische Mystiker Padmasambhava berichtet von dem lotosförmigen verborgenen Land in den Schluchten des Tsangpo, von paradiesischen Tälern, die nur unter ungeheuren Strapazen zu erreichen sind. Britische Forscher interessierte zunächst die Frage, ob der in einer unzugänglichen Schlucht in Tibet verschwindende Tsangpo und der fast 3.500 Meter tiefer aus den Dschungeln von Assam auftauchende Brahmaputra ein und derselbe Fluss sind. Tibetische Pilger suchen in dieser bisher unerforschten Region das, was in vielen Schriften als das Himmelreich auf Erden gepriesen wird, einen Heiligen Ort, der rasche Erlösung vom Leiden des Daseins und von der unendlichen Abfolge der Wiedergeburten verspricht. Westlicher Pragmatismus versuchte das Geheimnis anders zu lösen. Bekannt ist die Geschichte von dem Pandit Kinthup, der 10 Tage lang je 50 markierte Baumstämme in den Tsangpo werfen sollte, während Männer seines Auftraggebers Captain Harmans am Brahmaputra nach ihnen Ausschau hielten. Dummerweise verzögerten allerhand Abenteuer Kinthups seinen Auftrag um Jahre und als er schließlich seine Klötze in den Tsangpo warf, war Captain Harmans verstorben und sein Auftrag längst vergessen. Bis heute ist auch nicht bekannt, ob ein tibetischer Pilger das verheißungsvolle Land der Sehnsucht, dessen Eingang sich hinter einem gewaltigen Wasserfall verstecken soll, jemals erreicht hat, obwohl viele dieser Pilger niemals wiederkehrten. Dieser nie gesehene, gigantische Wasserfall in der Tsangposchlucht wurde zu einer Obsession vornehmlich britischer Entdecker und Abenteurer, die den Victoria Falls, dem Symbol britischer Herrschaft über Afrika, ein asiatisches Pendant hinzufügen wollten. Jan Baker, einem norwegischen Kunst-, Literatur- und Religionswissenschaftler, Bergsteiger und Abenteurer, von der National Geographic Society zu einem der sieben „Entdecker des Jahrtausends“ gekürt, ist es gelungen, die letzten, bislang unzugänglichen fünf Meilen dieser Schlucht zu erforschen und die Existenz des legendären Wasserfalls nachzuweisen. Jan Bakers Buch über seine spirituelle Vorbereitung auf dieses Unternehmen und der Bericht über seine 8 Reisen nach Pemakö in den Jahren von 1993 bis 1998, die wissenschaftliche Expeditionen, pures Abenteuer und zugleich Pilgerfahrten waren, ist ein bisher nicht bekanntes literarisches Genre. Der Bericht über den Vorstoß in unerforschtem Gelände zwischen Gletschereis und Bambusdschungel, unter Lebensgefahr und unendlichen Strapazen, und die sich immer wieder aufdrängenden Fragen nach dem Warum und nach dem eigentlichen Ziel der Suche nach einem nirgendwo verzeichneten, geheimnisvollen Berg, dem gigantischen Wasserfall und dem dahinter verborgenen Paradies, ist spannende Lektüre und ist ein Versuch, die Grenzen unserer Wahrnehmung zu überschreiten und Antworten auf die Suche nach einem Shangri La zu finden. Knallharte Spannung, Schilderungen einer gewalttätigen und atemberaubend schönen Natur wechseln ab mit Berichten und Zitaten früher Reisender, mit Passagen aus buddhistischen Schriften und mit dem Staunen über die abgeklärte Weisheit, mit der lamaistische Pilger diesen Ort aufsuchen. Das Pemakö ist der Ursprung der Sage vom Shangri La, es ist ein Ort, wo geographische Forschung mit Offenbarungen im Reiche des Geistes verschmilzt. 154 verschiedene Rhododendren wachsen dort, 218 Orchideenarten und seltene Heilpflanzen, doch nur selten unterbrechen Sonnenstrahlen den nahezu unaufhörlichen Regen und gewähren einen Blick über moosbedeckte Bergwände auf gletscherbedeckte Siebentausender, die das Pemakö bewachen. Tibeter suchen in diesem Nebelreich Beyül, das lotosförmige verborgene Land, ein geheimnisvolles Elysium, wo Pflanzen und Tier geheimnisvolle Kräfte besitzen, wo niemand mehr altert und die Erleuchtung rasch erlangt werden kann. Das Pemakö ist für den Pilger ein Ort des Übergangs in eine verborgene Dimension der Geister und des Geistes, ein inneres Paradies, das eher durch eingefahrene Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten verschleiert wird als durch die Beschaffenheit von Landschaft und Natur. Verschneite Hochgebirgspässe und Eislawinen, die unverhofft aus dem Nebel poltern, undurchdringliches Bambusdickicht, in dem die letzten tibetischen Tiger lauern, Erdrutsche, Schwefeldämpfe über wabernden Sümpfen, das Wimmeln von Giftschlangen und Myriaden von Blutegeln erscheinen mehr als Dantesches Purgatorium denn als harte tägliche Expeditionsrealität. Jan Bakers Buch über das Herz der Welt ist weit mehr als ein eindimensionales geographisches Abenteuer. Es ist ein Bericht über eine Pilgerschaft, deren Ziel weniger darin liegt, an einem bestimmten Ort anzukommen als jenseits von Kompass und Karte Landschaften des Geistes zu entdecken. Die tatsächliche Entdeckung des Tsangpofalles, der gefährliche Abstieg in die Schlucht, Vermessung und Fotografie und die Feststellung, dass sich dort keine Türe in das verborgene Land öffnet, könnte man nach der Reise in innere Welten als eine fast schon uninteressante Information aus der äußeren Welt abtun, wären da nicht die jüngsten Informationen und Gerüchte, wonach China in der Tsangposchlucht das Potential für das gigantischste Staudammprojekt sieht, das Menschen je ersonnen haben, oder auch über Ideen, dieses versteckte Herz der Welt zu einem Mekka des Ökotourismus ausbauen mit einer Seilbahn zum Wasserfall. Jan Bakers Buch kann helfen, die entfremdete Sichtweise nicht nur des modernen China, sondern auch unserer westlichen Welt zu überwinden, von der geleitet die Menschheit das einzige äußere Paradies ausbeutet und entweiht, das wir haben – die Erde selbst.

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