Anatolian Tribal Rugs 1050-1750: The Orient Stars Collection

Anatolian Tribal Rugs 1050-1750: The Orient Stars Collection

Autor/en:        Michael Franses

Verlag:            Hali Publications Ltd

Erschienen:     London 2021 (2022)

Seiten:            415

Buchart:          Leinen in Leinenschuber

Preis:              GBP 145,00

ISBN:              978-1-8981-1395-9

Kommentar:   Michael Buddeberg

 

Zu den Höhepunkten der VII Internationalen Orientteppich-Konferenz in Hamburg und Berlin im Sommer 1993 gehörte die Ausstellung der Teppich-Sammlung „Orient Stars“ des Ehepaars Heinrich und Waltraut Kirchheim in den Hamburger Deichtorhallen. Das dazu erschienene Buch „Orient Stars – Eine Teppichsammlung“ (OS1) wurde zu einem Meilenstein der Teppichliteratur. Schon damals galt die kleine und „erstaunliche Gruppe“ anatolischer Teppiche – allesamt Fragmente – aus dem 13. bis 16. Jahrhundert neben kaukasischen Stickereien und Teppichen und anatolischen Kelims als das Kronjuwel der Sammlung.

Während Ausstellung und Publikation einer privaten Sammlung häufig auch deren Endpunkt markieren, sammelten die Kirchheims weiter, schichteten um, trennten sich von ihren frühen Sammlungsschwerpunkten und konzentrierten sich mehr und mehr darauf, dem Kronschatz der Sammlung weitere Juwelen hinzuzufügen. Bis zum frühen Tod Heinrich Kirchheims im Juni 2006 entstand so mit anatolischen Teppichen aus der Zeit von ca. 1050 bis 1750 die bedeutendste und historisch wichtigste Sammlung dieser bisher kaum erschlossenen  Stammeskunst außerhalb der Türkei. Sie bildet das Herz der seit kurzem vorliegenden Publikation von 75 Flachgeweben und Knüpfarbeitern aus Persien, Zentralasien, dem Kaukasus und vor allem aus Anatolien. Das in Format, Umfang, sorgfältigem Design und noblem Gewand dem Katalog aus 1993 entsprechende Buch versteht sich als Folgeband und läuft daher unter dem bezeichnenden Kurztitel  „Orient Stars 2“ (OS 2). Das ist umso mehr naheliegend als immerhin 43 der anatolischen Teppiche bereits Gegenstand von Orient Stars1I waren und die späteren Erwerbungen fast alle das Thema früher anatolischer Knüpfkunst vertiefen. Was aber macht das für einen Sinn, das Gros der Teppiche und Fragmente erneut abzubilden und zu beschreiben, könnte man fragen? Doch gerade in diesem wissenschaftlichen Blick auf diese Kronjuwelen mit einem Abstand von fast 30 Jahren liegt die herausragende Bedeutung von Orient Stars 2. Michael Franses hat mit diesem Bücherpaar nicht nur einen Meilenstein sondern ein einzigartiges Monument der Teppichliteratur geschaffen.

An einem Beispiel sei das veranschaulicht: Der gelbgrundige Teppich mit vierfachem Oktogon-Gül, ein Fragment von fast 3 Metern Länge wird in OS 1 von dem amerikanischen Händler und Vorbesitzer Garry Muse beschrieben. Er erkennt in dem Muster dieses Teppichs – für ihn einer der schönsten anatolischen Teppiche überhaupt – zahlreiche Überreste von anthropomorphen und zoomorphen Figuren und beruft sich dabei ersichtlich auf die von dem britischen Prähistoriker James Mellaart vertretene These vom neolithischen Ursprung anatolischer Kelimmuster. Die von Gerry Muse hervorgehobene Betonung des Gebärmutterbereichs und den sorgfältig gezeichneten Geburtskanal der als weibliche Figuren interpretierten Musterelemente die den oberen und unteren Abschluss des Teppichs, die sogenannten Lappets, prägen, entsprechen einer damals gerne vertretenen Musterinterpretation. Michael Franses nun, in OS 2, erkennt ohne spitzfindige Analysen formale Parallelen zwischen dem achtstrahligen Stern-Medaillon und seinen geviertelten Ecklösungen zu turkmenischen Güls etwa der Tekke-Stämme. Da inzwischen durch C14-Untersuchungen erwiesen ist, dass auch Teppiche der Turkmenen durchaus aus dem 15. Jahrhundert stammen und damit zeitgleich mit dem Kirchheim-Teppich entstanden sein können kann der Mustervergleich von Michael Franses durchaus der historischen Wahrheit nahe kommen. Schließlich haben sowohl die anatolischen Nomaden als auch turkmenische Stämme ihre Wurzeln in der Tiefe Zentralasiens. Walter Dennys Beitrag in OS 2 zu den von 1994 bis 2011 als Leihgabe an das Metropolitan Museum in New York gegebenen Kirchheim-Teppichen enthält dann gleich noch eine weitere Beschreibung dieses Teppichs. Er sieht hier ganz nüchtern die Lösung der formalen Aufgabe, ein zentrales Medaillon in einem länglichen Format unterzubringen, in der Wiederholung der geviertelten Medaillons in den Ecken, so wie man es auch von islamischen Bucheinbänden und aus der Architektur kennt. Die Muster sind für ihn ohne wagemutige Spekulation schlicht eine Kombination von pflanzlichen Bestandteilen – Blumen, Blätter, Stengel – und damit eine in Anatolien und in den islamischen Ländern weit verbreitete Gestaltungsidee. 30 Jahre wissenschaftlicher Fortschritt und Forschung haben zu der Erkenntnis geführt, dass wir die Sprache der Teppichmuster nie wirklich verstehen werden und dass nüchterner Betrachtung und kunsthistorischer Präzision der Vorzug vor überbordender Fantasie zu geben ist..

Den Spuren dieses unlösbaren Geheimnisses früher Teppiche zu folgen, mag der Antrieb für Waltraut und Heinrich Kirchheim gewesen sein, diese außergewöhnliche Sammlung zusammenzutragen und mit einem weiteren Band, Orient Stars 2, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Michael Franses, der schon für den Katalog OS 1 als Autor und Herausgeber zeichnete, war noch von Heinrich Kirchheim mit OS 2 beauftragt worden und er erfüllt dieses Vermächtnis in großartiger Art und Weise, indem er die Sammlung im historischen und künstlerischen Kontext ihrer Zeit verankert. In der Gegenüberstellung mit vergleichbaren Exemplaren aus anderen Sammlungen und Museen – hier spielen natürlich die in Istanbul verwahrten Teppiche die wichtigste Nebenrolle – wird in chronologischer Ordnung der anatolische Stammes- oder Nomadenteppich von den frühesten bekannten Exemplaren kurdischer und seldschukischer Herkunft bis zum Beginn höfischer und kommerzieller Einflüsse im 18. Jahrhundert verfolgt. Seine Rezeption im Westen, überliefert vor allem durch Gemälde von Bellini, Holbein, Memling, Ghirlandaio und anderen, die ganzen Gruppen ihren Namen gaben, nimmt breiten Raum ein. Das überraschende Auftauchen früher anatolischer Teppiche mit der Darstellung von Tieren in tibetischen Klöstern, dazu aus derselben Quelle der berühmte „Gesichter-Teppich“, geben ungelöste und wohl für immer unlösbare Rätsel auf. Ihre musterbildenden Gestalten gehören zu einer Gruppe zoomorpher Wesen, wie sie beispielsweise auch in den Flachgeweben von Shanpalu im Sand der Taklamakan-Wüste gefunden wurden. Ihnen, diesen „Fabulous Creatures“, gilt Franses` besondere Sympathie und er findet solche Fabulous Creatures, insoweit nicht unbedingt der modernen wissenschaftlichen Tapitologie folgend, immer wieder in den Feldmustern und Bordüren anatolischer Teppiche.

Aus der Fülle der gebotenen Information in Wort und Bild können hier nur einige Highlights hervorgehoben werden, etwa mongolische und persische Flachgewebe aus vorchristlicher Zeit mit der Darstellung von Kamelen oder bunten Drachen, die Fragen nach dem Ursprung der Web- und Knüpfkunst aufwerfen. Anna Beselin rekonstruiert aus mehreren von Kirchheim an das Berliner Museum gegebenen Fragmenten eines Herat-Teppich aus dem 17. Jahrhundert dessen ursprüngliche Größe – ein Lehrstück wissenschaftlicher Teppichanalyse. Eberhart Herrmann analysiert auf seine Weise den Gesichter-Teppich und findet in ihm nicht nur seine kosmische Sichtweise bestätigt, sondern auch Ahura Mazda und den allgegenwärtigen Senmurf. Sorgfältige Strukturanalysen und die Ergebnisse der C14-Altersbestimmung aller Teppiche der Sammlung bilden neben einem Literaturverzeichnis den Anhang.

Wie so oft ist auch die Sammlung Kirchheim das Produkt einer einzigen Generation. Die Eltern Kirchheim haben zwar, wie der Sohn Klaus in seiner Einleitung offenbart, ihr Sammlergen an ihre Kinder weitergegeben, doch nicht die Leidenschaft für Teppiche. So war schließlich für Oktober 2021 ein Termin bestimmt, ein Katalog gedruckt und die Teppichwelt sah mit großer Spannung einem bedeutenden Auktionsevent entgegen. Doch wenige Tage vor dem Termin wurde die Auktion mit der Nachricht abgesetzt, die Sammlung sei en bloc verkauft. Wohin blieb vorerst geheim und erst Monate später wurde das Museum für Islamische Kunst in Doha/Qatar als Käufer benannt. Die Kirchheim-Sammlung befindet sich dort in bester Gesellschaft und sie ist – das darf man hoffen – als Ganzes weiterhin für die Wissenschaft zugänglich. So besteht die Chance, dass in irgendeiner Zukunft ein Folgeband Orient Stars 3 als Dokument für die weitere Entwicklung der Teppichwissenschaft erscheinen wird.

(OS 1 und OS 2 werden von HALI auch als Paket zum Sonderpreis von GBP 250,00 angeboten).

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