Holy Madness – Portraits of Tantric Siddhas

Autor/en: Rob Linrothe (Hrsg)
Verlag: Rubin Museum of Arts and Serindia Publications
Erschienen: New York and Chicago 2006
Seiten: 454
Ausgabe: Hardcover (auch als softcover erhältlich
Preis: US-$ 150.–
ISBN: 1-932476-26-1 (Hardcover-Verlagsausgabe)
Kommentar: Michael Buddeberg, Januar 2007

Besprechung:
Nicht von ungefähr hat Rob Linrothe, der Herausgeber dieses Buches über die vielleicht faszinierendsten und farbigsten Erscheinungen des Subkontinents und des Himalaya, seinem einführenden Essay eine Fotografie aus dem Jahre 1989 vorangestellt. Wohl am Ufer eines Heiligen Flusses sehen wir eine Prozession von Dutzenden bärtiger, langhaariger und vollkommen nackter Männer, allesamt mit asketischen Körpern, schemenhaft beleuchtet von einer die Morgennebel kaum durchdringenden Sonne. Sadhus in Procession lautet der Bildtitel und die Aufnahme macht bewusst, dass diese Sadhus oder Siddhas nicht nur der Legende angehören, sondern im aktuellen Hinduismus und Buddhismus eine Realität sind, die auf eine weit über tausendjährige Tradition zurückblicken kann. Hatte schon der frühe Buddhismus erkannt, dass die angestrengte Bemühung um Erlösung bei manchem Heilssucher paranormale Fähigkeiten entstehen lässt, wurden diese Siddha-Kräfte vor allem in der tantrischen Spielart des Buddhismus zum Nutzen der Lehre eingesetzt. Siddhas fliegen durch die Luft, wandeln auf dem Wasser, durchdringen Berge und Mauern und verlängern ihr Leben auf ein Vielfaches. Solche Legenden entstanden etwa seit dem 8. Jahrhundert in Ostindien (Bengalen) und sie berichten meist von der übernatürlichen Verwandlung ganz normaler Sterblicher in Siddhas. Es waren reiche Händler, Künstler, Söhne von Königen, Jäger oder Musiker, oft auch einfache Bauern oder Handwerker, denen das Heilserlebnis widerfuhr, die die Nutzlosigkeit ihres bisherigen Lebens erkannten, weltliche Vorurteile ablegten und im Fortschreiten ihres Verständnisses der illusorischen Natur des Seins die Grenzen konventionellen Benehmens sprengten und sich exzentrisch und überraschend verhielten. Ein göttlicher Impuls ließ sie in Grashütten leben, nackt, bedeckt mit der Asche von Friedhöfen, befreit auch von den mit Nahrung, Sex und Alkohol verbundenen Tabus. Die Legenden, entstanden in Indien und Tibet und in tibetischen Manuskripten erhalten, mögen zum großen Teil erfunden sein, doch die Personen hat es gegeben und einige wurden zu den einflussreichsten und wichtigsten religiösen Führern in der Geschichte des tibetischen Buddhismus. Diesen Siddhas, vor allem den 84 überlieferten historischen Siddhas, den Mahasiddhas war eine Ausstellung im New Yorker Rubin Museum of Art gewidmet, zu der das Buch „Holy Madness – Portraits of the Tantric Siddhas“ erschienen ist. Der Titel bedarf einer Erklärung. Die Kunst, die Siddhas darstellt, ist Portraitkunst nur in einem sehr verallgemeinernden Sinn, denn vom Leben dieser Siddhas im Sinne historischer Wahrheit wissen wir nur wenig. Neben den Legenden und Bildwerken sind konkrete Daten kaum dokumentiert. Ziel des Buches ist daher auch nicht eine Suche nach den Spuren dieser Menschen, sondern der Versuch, die Kraft und Wirkung dieser einzigartigen Persönlichkeiten zu zeigen, wie sie Künstler in ihren Werken zum Ausdruck brachten. Weit über 100 Kunstwerke, von indischen Miniaturen bis zu zeitgenössischen Fotos von Asketen, tibetische Holzdrucke, indische Palmblattmanuskripte, nepalesische Lehmfiguren, Dutzende teils sehr früher Thangkas und lebensgroße Bronzen, zusammengetragen aus amerikanischen, europäischen und asiatischen Sammlungen und Museen führen vor Augen, wie diese religiösen Lehrer Generationen von Künstlern inspirierten. Ergänzt um die Fotos von Kunst, die sich heute noch an Ort und Stelle befinden, Skulpturen aus dem Kumbum in Gyantse, Wandmalereien aus den Höhlentempeln von Dunhuang und dem Sumtsek in Alchi und zahllose Reliefs von indischen Tempeln, entsteht so ein umfassendes Bild dieser heterogenen Kaste exzentrischer Yogis. Die begleitenden Essays von 10 namhaften Wissenschaftlern stellen diese Kunstwerke in den religionsgeschichtlichen, historischen und soziologischen Kontext und versuchen, sich dem Phänomen der Siddhas anzunähern. Diese göttlich inspirierten Wesen, befreit von den Zwängen der Naturgesetze, von kulturellen Konventionen und begrenzter selbtsichtiger Überzeugung, erfüllten ein tiefes kulturelles Bedürfnis ihrer Zeit. Im buddhistischen Indien und im alten Tibet – die Rede ist hier von der Zeit vom 7. bis zum 11 Jahrhundert – formten die Siddhas ein charismatisches Gegengewicht zur Autorität überkommener religiöser Institutionen. Sie galten in ihrer Zeit weder als heilig noch als verrückt, sondern wurden verehrt als wirklich rationale und freie Individuen, viel vernünftiger als der Rest der Menschheit, befreit vom irrationalen Streben nach der Verwirklichung selbstsüchtiger Bedürfnisse, ähnlich den Heiligen Narren und Asketen, wie sie auch aus anderen Religionen bekannt sind. Das Buch ist zugleich auch ein Dokument der langen und fruchtbaren Verwandtschaft zwischen dem buddhistischen Indien und Tibet und ein großartiger Beleg für die Untrennbarkeit von Leben, Spiritualität und künstlerischem Ausdruck im tantrischen Buddhismus.

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