Autor/en: Dieter Kuhn
Verlag: Abegg-Stiftung
Erschienen: Riggisberg 2022
Seiten: 486
Buchart: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: CHF 120,00
ISBN: 978-3-905014-73-0
Kommentar: Michael Buddeberg
Drei chinesische Erfindungen haben an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit den Lauf der Weltgeschichte entscheidend beeinflusst. Der Druck mit beweglichen Lettern, das Schießpulver und der magnetische Kompass erreichten Europa zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert, revolutionierten Kriegstechnik, Kommunikation und Mobilität und bereiteten den Boden für das Zeitalter der Renaissance. Fast unbekannt ist indessen, dass sich in China mit der seit etwa 5000 Jahren bekannten Seide schon früh eine herausragende und innovative Technologie der Verarbeitung dieses Materials entwickelt hat. Es gibt heute kaum noch Zweifel, dass sich die verschiedenen Formen des Webstuhls, das einfache Rückengurtwebgerät, die vertikalen Webstühle und dessen horizontale Varianten mit ihren teilweise hochkomplizierten mechanischen Einrichtungen, ja sogar die Haspel und das Spinnrad ihren Ursprung im antiken China hatten und ihre Blüte in den frühen Dynastien der Kaiserzeit erlebten. Erst im späten Mittelalter erreichten diese chinesischen Errungenschaften über die Seidenstraße, den Nahen Osten und Byzanz Europa und setzten eine Entwicklung in Gang, die mit den ersten Spinn- und Webmaschinen die so genannte industrielle Revolution einläuteten. Hier war es dann Joseph-Marie Jaccquard, der mit dem Einsatz von Lochkarten zur Steuerung von Webmaschinen das binäre System und damit die Grundarchitektur der Computertechnik einführte. Wenn man so will hat so die Webtechnologie des antiken China eine Kausalkette in Gang gesetzt, die bis in die digitale Gegenwart führt.
Prof. Dieter Kuhn, emeritierter Sinologe an der Universität Würzburg, hat nach dem von ihm herausgegebenen und 2012 bei Yale erschienenen und bis heute unübertroffenen Standardwerk über chinesische Seiden ein erstaunliches und faszinierendes Buch über die chinesische Textiltechnologie geschrieben. Ausgangpunkt ist natürlich die chinesische Seide, schon immer ein hochgeschätztes Material, dessen Vielfalt in Technik und Mustern und dessen Bedeutung in der chinesischen Geschichte sich in ihrer ganzen Tragweite erst durch die professionelle, wissenschaftliche Archäologie chinesischer Forscher in den letzten 70 Jahren und nicht zuletzt durch Entdeckungen in tibetischen Klöstern und Tempeln erschlossen hat. Die Technologie der Herstellung und Verarbeitung von Seide ist das notwendige Pendant zur eminenten Wichtigkeit der Seide in China und der herausragenden Rolle, die sie stets in der chinesischen Kulturgeschichte gespielt hat. Dies nicht allein ihrer Schönheit wegen, sondern vor allem als Ausdruck von Status, Macht und Reichtum. Seidengewebe und Seidenstickereien definierten höfischen und klerikalen Rang, waren Gegenstand kaiserlicher Gunstbeweise, Besteuerungsgrundlage und Zahlungsmittel, Währung für Tributzahlungen, hochwillkommenes Präsent für Gesandte fremder Länder und sie gehörten zu den wichtigsten Objekten des Handels zwischen Ost und West. Diese herausgehobene Bedeutung von Mode und Textilien im alten China war auch Ursache für einen steten Innovationsdruck, der immer neue Techniken des Webens, Färbens und Stickens hervorbrachte. Dieser technischen Entwicklung, den sich stets weiter verfeinerten, komplizierten Webtechniken, den dazu benötigten Webstühlen und dem damit erreichten Höchsten Niveau an Kunstfertigkeit, Technik und Technologie ist das Buch gewidmet.
„Words and Works“, Worte und Werke, ist das Motto der Monographie und es ist nahezu unglaublich, wie viele schriftliche und bildliche Quellen neben den Beispielen für das Produkt Seide Dieter Kuhn zusammengetragen hat und nun in acht Kapiteln ausbreitet. Deren Anordnung folgt der Systematik der Textilproduktion vom Faden über die Bindungssysteme der Gewebe bis zur komplizierten Mechanik der Webstühle. Als Beispiel für viele sei hier nur der „Draw Loom with Figure“ erwähnt, ein schon zu Zeiten der Han- und Tangdynastie genutzter Horizontalwebstuhl bei welchem dem Weber in einer darüber liegenden Ebene eine Hilfsperson zur Bedienung der musterbildenden Fächer zuarbeitet – nach Kuhn eine der ingeniösesten Erfindungen mechanischer Ingenieurskunst aller Zeiten. Von diesem Webstuhl stammen die berühmten Jin-Seiden, polychrom gemusterte, kettsichtige Gewebe in Leinwand-Kompositbildung, die zu den schönsten Seiden gehören, die Archäologen aus dem Sand der Wüsten Xinjiangs geborgen haben. Und immer wieder werden vom Autor Vergleiche und Parallelen zu der oft viele Jahrhunderte später einsetzenden textiltechnischen Entwicklung in anderen textilen Kulturen, in Zentralasien, in Persien, in der mediterranen Welt und vor allem in Europa gezogen.
Dieter Kuhns Epos über die textiltechnische Überlegenheit des alten China ist ein bewundernswertes und fesselndes Kompendium zu einer Technologie, deren Komplexität oft unterschätzt wird. Der Autor, der eine Ausbildung zum Textilfachmann durchlief, bevor er zur Sinologie wechselte, empfiehlt zur Lektüre des Buches ausdrücklich „… it must be read with care.“ Ein Glossar, das dem textiltechnischen Laien bei dieser anempfohlenen Sorgfalt eine Hilfestellung wäre, fehlt leider. Das eindrucksvolle Kapitel acht, eine Zusammenstellung und Übersetzung chinesischer textiltechnischer Begriffe aus der nunmehr fünftausend Jahre währenden textilen Entwicklung Chinas von Zeiten der Zhou bis zur Qing-Dynastie kann ein solches Glossar nicht ersetzen aber es belegt überzeugend, dass den eingangs genannten und weithin als chinesisch bekannten, weltbewegenden Erfindungen die Webkunst hinzuzufügen ist – quod erat demonstrandum.