Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern

Autor/en: Jeong-hee Lee-Kalisch (Hrsg)
Verlag: Kulturstiftung Ruhr – Hirmer Verlag
Erschienen: Essen und München 2006
Seiten: 664
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: € 45.– (€ 30.– in der Ausstellung)
ISBN: 3-7774-3115-X
Kommentar: Michael Buddeberg, September 2006

Besprechung:
Mit Erstaunen oder gar Entsetzen wird schon mancher Besucher Tibets beobachtet haben, wie tibetische Kunstmaler in alten Klöstern und Tempeln mit großer Sorgfalt verblichene und rauchgeschwärzte Wandmalereien aus dem 17. Jahrhundert oder noch älter mit leuchtenden, neuen Farben übermalt haben. Nichts anderes geschieht regelmäßig mit uralten Steinreliefs an Pilgerwegen oder mit dem Antlitz ehrwürdiger Bronzestatuen in Tempeln, die wegen dieses Eifers der Gläubigen kaum eine Chance haben, Patina anzusetzen. So kann es nicht weiter verwundern, dass den buddhistischen Äbten und Mönchen tibetischer Klöster das Prinzip Kunstausstellung und das damit verbundene Verständnis autonomer Kunst völlig fremd sind. Abbilder von Buddha oder von Bodhisattvas, ja alle Darstellungen von Gestalten aus dem buddhistischen Pantheon, mögen sie gemalt, aus Ton geformt oder aus Metall getrieben oder gegossen sein, sind für den gläubigen Buddhisten nicht Kunst sondern Kultobjekte, Mittel zur Visualisierung geistiger und psychischer Kräfte, Werkzeuge, die der Praktizierende bei seinen Übungen als Vorbild und Energiequelle nutzt. Umso mehr ist zu würdigen, dass die Äbte bedeutender tibetischer Klöster damit einverstanden waren, solche Objekte aus dem lebendigen Kontext kultischer Verehrung für die Dauer einer Ausstellung in der Villa Hügel in Essen (bis zum 26.11.2006 und danach wahrscheinlich auch noch in Berlin) um die halbe Welt zu schicken. Diese weltweit erstmalige und einzigartige Präsentation von weitgehend unbekannten Schätzen aus tibetischen Klöstern ist deshalb nach dem Verständnis der Leihgeber vor allem als eine kulturelle und spirituelle Mission anzusehen, als ein Versuch, die religiösen Ideale dieser Kunst den Besuchern nahe zu bringen. Die Ausstellung in Essen zeigt 150 Werke aus Tibet: Aus dem Potala-Palast, aus der Sommer-Residenz des Dalai Lama, dem Norbulinka-Palast, aus dem Tibet-Museum in Lhasa und dem Yarlung-Museum in Tsethang und aus den zentraltibetischen Klöstern Mindröl Ling, Tashi Lhünpo, Palkhor Chöde, Sakya und Shalu. Diese Ausstellung muss man einfach gesehen haben. Auch wer weniger mit buddhistischer Kunst vertraut ist, insbesondere mit ihrer tibetischen Erscheinungsform, wird von der Schönheit, der handwerklichen Perfektion, der Ausdruckskraft und nicht zuletzt von der spirituellen Ausstrahlung der Objekte tief beeindruckt sein. Und das Katalogbuch ist ein Meilenstein in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der in Tibet vorhandenen Kunstschätze. Natürlich waren bis auf ganz wenige Ausnahmen all die Skulpturen, Thangkas und Kultobjekte der Fachwelt bereits bekannt und meist auch irgendwo abgebildet oder auch schon ausgestellt. So sind (fast) alle Skulpturen aus dem Potala Palast und anderen tibetischen Standorten bereits in Ulrich von Schroeders Monumentalwerk „Buddhist Sculptures in Tibet“ inventarisiert, und im Shanghai Museum (2001) und, später, im Bowers Museum in Santa Ana in Kalifornien (2003) waren viele der kostbarsten und spektakulärsten Objekte aus dem Tibet Museum bereits zu sehen und sind in Katalogen abgebildet und beschrieben. Doch eine wirklich ernsthafte historische, wissenschaftliche und ikonographische Bearbeitung und Beschreibung dieser Kunstwerke hat es bisher nicht gegeben. Sie liegt nun vor, und die Bedeutung dieses ersten Schrittes zur Aufarbeitung eines einzigartigen Weltkulturerbes kann vielleicht am besten mit einer Metapher beschrieben werde: Fast viereinhalb Kilo Katalog sind nicht nur ein ansehnliches Gewicht, sondern Ausdruck von der Bedeutung und Qualität dieser Publikation. Im Essay-Teil geben renommierte Tibetologen aus Europa, Tibet und Amerika Einführungen in die tibetische Kunst und Kultur. Die Themen umfassen die Grundzüge des Buddhismus in Tibet und seine Einflüsse an der Seidenstrasse, die tantrischen Rituale, das institutionelle Klosterwesen und die Bedeutung von Pilgerreisen. Besonders komplexen Themen wie der buddhistischen Ikonometrie, dem Mandala, dem buddhistischen Schrifttum in Tibet, der Baugeschichte des Potala-Palastes, der tibetischen Heilkunde und vor allem der Entwicklung der tibetischen Kunst und ihrer Funktion sind weitere Aufsätze gewidmet. Den Schwerpunkt jedoch bilden die Objekte selbst, die eine Zeitspanne von 1500 Jahren abdecken und einen Eindruck von der Entwicklung dieser Kunst geben, von den vielfältigen Einflüssen aus den Nachbarregionen Indien, Nepal, Kaschmir, Zentralasien und China und von der Rezeption und Adaption der verschiedenen Stilmerkmale zu einer eigenständigen tibetischen Kunst. Exemplarisch für diese Kunst ist eine Gruppe von nahezu lebensgroßen, in Repoussée-Technik aus vergoldeter Kupferlegierung gefertigten Figuren aus dem Kloster Mindrö Ling. Dargestellt sind die frühen Meister des Lamdre-Systems, einer Meditationslehre, die in der Sakya-Schule, einer der vier großen Richtungen des tibetischen Buddhismus, gepflegt wird. Zehn von insgesamt 21 dieser großartigen Figuren, von denen bisher keine Tibet je verlassen hat, sind in Essen zu sehen und im Katalog hervorragend, auch in Detailaufnahmen abgebildet und in ihrer Bedeutung beschrieben. Auffallend und ungewöhnlich ist der Portraitcharakter dieser Bildwerke und die detailreiche, wirklichkeitsgetreue Wiedergabe von Textilien, wie man sie auch von zeitgenössischer Thangka- und Wandmalerei kennt. Sie werden vorsichtig in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert und gehören zum Schönsten, was tibetische Künstler geschaffen haben. Die ebenfalls fast lebensgroße Statue des Maitrea aus dem Lima Lakhang im Potala mag mancher Besucher von Lhasa schon gesehen haben. Sie ist dort aber stets in kostbare Brokatgewänder gehüllt und mit Perlen- und Juwelenketten geschmückt. Hier sehen wir sie so, wie sie der Künstler geschaffen hat, stehend, auf einem Lotossockel, in unnachahmlich anmutiger Haltung, reich mit dem Schmuck eines Bodhisattva versehen und mit einem streifenverzierten Hüftgewand bekleidet, dessen in Kupfer und Silber eingelegte Medaillons Blüten und Tiergestalten zeigen. Auch dies ein einzigartiges Kunstwerk, wohl in Nordostindien im Stil der späten Pala-Periode im ausgehenden 11. Jahrhundert für Tibet gefertigt. Das älteste Stück ist ein auf 473 datierter sitzender Buddha Shakyamuni aus der chinesischen Dynastie der Nördlichen Wei und war wohl Bestandteil der frühen buddhistischen Sammlungen Tibets. Eine tibetische Prachthandschrift aus dem frühen 15. Jahrhundert fällt durch ihre ungewöhnliche Größe auf. Die reich mit Reliefschnitzerei verzierten Buchdeckel haben ein Maß von 100 x 54.5 cm und sind 14.5 cm dick. Etwas weniger prachtvoll aber einzigartig in ihrer Vollständigkeit ist eine reich illustrierte indische Handschrift des Prajnaparamita aus dem späten 11. Jahrhundert, die sicher zum Zwecke der Übersetzung nach Tibet gebracht und dort bis heute bewahrt wurde. In Indien haben sich solche Kostbarkeiten, wenn überhaupt, nur in Fragmenten erhalten. Ungewöhnlich ist schließlich, dass sogar bedeutende textile Schätze gezeigt werden. Das gilt weniger für die verschiedenen Tempelbehänge aus chinesischem Brokat oder die Thronrobe eines Dalai Lama aus dem 19. Jahrhundert, sondern für die buddhistischen Bildwerke aus feinster Stickerei (aus der Ming-Zeit) oder in Wirk-Technik. Der in der so genannten Kesi-Technik gewirkte Yidam Acala aus der Yuan-Dynastie gehört zu den besterhaltenen frühen chinesischen Textilarbeiten und erinnert an vergleichbare Stücke, die in Kharakhoto, der lange vergessenen Hauptstadt des Tangutenreichs Xixia ausgegraben wurden und heute in der Eremitage sind. So könnte, wie es im Katalog geschieht, zu jedem einzelnen der Objekte seine Schönheit, Einzigartigkeit und Bedeutung für die tibetische Kunst und Kultur beschrieben und erklärt werden. Die Bedeutung von Katalog und Ausstellung geht aber noch weit darüber hinaus. Ein solches Vorhaben bedurfte natürlich nicht nur der Zustimung tibetischer Äbte und des „Administrative Bureau of Cultural Relicts, Tibet Autonomous Region, China“, sondern auch der Billigung durch die höchsten Instanzen in Beijing. Dass diese zu einer derart repräsentativen und weltweit Beachtung findenden Präsentation tibetischer Kunst und Kultur ihre Zustimmung gaben, muss für die Zukunft dieser oft schon verloren geglaubten, einzigartigen Hochkultur vom Dach der Welt hoffnungsvoll stimmen. Was die Kulturstiftung Ruhr und Frau Lee-Kalish mit dem Team von Autoren hier geleistet haben, verdient höchste Bewunderung.

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