Tibet – Mit den Augen der Liebe

Autor/en: Matthieu Ricard
Verlag: Frederking & Thaler
Erschienen: München 2006
Seiten: 232
Ausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
Preis: € 39.90
ISBN: 3-89405-678-9
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 2007

Besprechung:
Als im Sommer 2006 der erste Zug aus China in den neu errichteten Bahnhof in Lhasa einfuhr sahen das viele als den letzten und entscheidenden Akt in der traurigen Geschichte vom Untergang des alten Tibet. Und in der Tat: Zwar ist noch immer der ehrwürdige Potala Palast, eines der schönsten und machtvollsten Bauwerke der Welt, das Wahrzeichen dieser Stadt, doch das Häusermeer zu seinen Füßen hat mit dem alten Lhasa nicht mehr viel zu tun. Das Lhasa von heute ist eine moderne chinesische Großstadt, die sich von anderen chinesischen Städten vielleicht durch größere Sauberkeit und gelegentlich durchaus ansprechende Architektur unterscheidet, in der aber tibetische Pilger, die mit rotierenden Gebetsmühlen versuchen, den Lingkor, den um das alte Lhasa führenden großen Pilgerweg, im dichten Verkehr und im Dschungel einer chinesischen Konsumwelt wiederzufinden, als exotische Fremdkörper erscheinen. Auch in dem immer kleiner werdenden alten Zentrum Lhasas dominieren mehr und mehr chinesische Touristen und verwandeln den Barkhor und den Jokhang Tempel, einst das Zentrum der tibetisch buddhistischen Welt, in ein Freilichtmuseum und die wenigen Tibeter zur Staffage. Das ist Absicht. Was den chinesischen Machthabern mit einem halben Jahrhundert schierer Gewalt nicht gelungen ist, könnte nun auf weit subtilere Art und Weise vollendet werden: Die Transformation einer vor allem auf Spiritualität gegründeten Hochkultur in ein Objekt musealer Präsentation chinesischer Geschichte. Wer die Veränderung Lhasas in den vergangenen zwanzig Jahren beobachtet hat, mag das durchaus so empfinden. Parallel dazu zeichnet sich aber genau in diesem Zeitraum der Beginn einer hoffnungsvollen Renaissance tibetischer Kultur ab, auch wenn sich dies unter dem Joch eines totalitären Regimes vollzieht. Zahlreiche Klöster wurden wieder aufgebaut und eine stets wachsende Anzahl von Mönchen und Nonnen erhielten die Erlaubnis, ihre Studien und ihre spirituelle Praxis wieder aufzunehmen. Matthieu Ricard, Franzose und promovierter Arzt, der seit mehr als dreissig Jahren als buddhistischer Mönch im Himalaya lebt, zudem ein begnadeter Fotograf, will mit diesem Buch ein Zeugnis ablegen, dass die Welt des alten Tibet fortbesteht und dass die Seelenkraft und Entschlossenheit der Tibeter einen hoffnungsvollen Weg in die Zukunft weist. Natürlich sieht auch Ricard die Veränderungen und Risiken, etwa den durch Abholzung riesiger Flächen betriebenen Raubbau an der Natur, das nahezu vollkommene Verschwinden der Wildtierbestände und den Rückgang tibetischer Sprachkultur durch die chinesische Amtssprache. Aber er zeigt in unübertroffenen Bildsequenzen, was vom traditionellen Tibet noch fortbesteht. Das ist zunächst die Unermesslichkeit und Schönheit seiner weithin noch unverdorbenen Landschaften, die zweifellos die Entwicklung und die Tiefe dieser tausendjährigen buddhistischen Zivilisation begünstigt haben und es ist die nomadische und bäuerliche Bevölkerung, die aus dieser Umwelt und einer reichen Tradition eine erstaunliche geistige Kraft bezieht. In ausgewählten Kapiteln führt Ricard in die traditionelle Welt der Mönche, Lamas und Novizen, zeigt die Bedeutung und den Ablauf von Pilgerreisen und lässt den Leser und Betrachter teilhaben an der Schönheit und Fröhlichkeit nomadischer Feste. Die Rückkehr des großen Lama Dilgo Khyentse Rinpoche (1910-1991), eines der Lehrer des Dalai Lama, aus dem Exil in sein osttibetisches Stammkloster im Jahre 1988 war ein solches Fest, das gar nicht anders als ein optimistisches Signal für die Zukunft interpretiert werden kann. Wir sind mit dabei bei einer Pilgerreise im Jahr des Holzaffen (2004), die unter anderem zum „Türkissee, wo der Schneelöwe brüllt“ und zur Einsiedlerhöhle Karma Taksang, der „weißen Höhle des Tigers“ führt. Und wir besuchen schließlich nach einem Reiterfest zu Ehren des Gesar von Ling, einer legendären Heldengestalt des alten Tibet, die Druckerei in Derge, eines der bedeutendsten spirituellen Zentren Tibets, und lesen über die kaum glaubliche zweifache Rettung dieses Weltkulturerbes, einmal, 1966, vor den roten Garden und, zehn Jahre später, vor der Bauwut tibetischer Behörden, die für den Bestand der Hunderttausende alter Holzdrucktafeln einen feuerfesten Betonbau errichten wollten. Großartige Portraits von Kindern und Mönchen, von Lamas und Einsiedlern und von Nomaden und Bauern zeigen, dass Ricard diesen Menschen und diesem Land so nahe ist, als wäre er einer von ihnen. Und so ist zu hoffen, dass er Recht hat mit der Feststellung, dass das Pendel in Richtung Tibet ausschlägt und den Beginn einer Erneuerung ankündigt. Zu hoffen ist auch, dass dieses außergewöhnlich schöne und besondere Buch über Tibet großen Erfolg haben wird, denn alle Einkünfte des Autors, die ihm als dem Urheber von Texten und Bildern zufließen, kommen dem Bau von weiteren Schulen, Brücken und medizinischen Zentren in Tibet zugute.

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