Tibetische Amulette aus Himmelseisen – Das Geheimnis der Toktschaks

Autor/en: Gudrun John
Verlag: VML-Verlag
Erschienen: Rahden/Westf. 2006
Seiten: 264
Ausgabe: Hardbound
Preis: € 49.80
ISBN: 3-89646-034-X
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 2007

Besprechung:
Nach der Lektüre dieses Buches ist man fast geneigt, den Tibetern zu glauben: Toktschaks sind nicht von Menschenhand gemacht, sondern eine Gabe des Himmels. Sie sind nicht Ergebnis eines handwerklichen Gussvorganges, sondern ein Erzeugnis von Blitz und Donner im Zusammenwirken mit den Erd- und Himmelsgeistern. Nach heftigen Gewittern, wie sie für das tibetische Hochland typisch sind, bilden sich während einer bestimmten Zeit tief in der Erde reliefartige Gegenstände aus Metall, die dann als geformte Energie in der Gestalt kleiner Amulette ihren Träger vor unberechenbaren Gefahren schützen. Toktschaks kann man daher nur finden, auf Feldern, Hügeln oder in der Weite der tibetischen Steppenlandschaft. Tibeter sind davon überzeugt. Und in der Tat, es ist ein ungelöstes Geheimnis um diese ganz eigenartigen, kleinen tibetischen Metallgegenstände, die in ihrer naiv-groben, manchmal ähnlich wie moderne Piktogramme vereinfachenden Art eine besondere Faszination ausstrahlen. Gewiss; es sind Amulette und Amulette gibt es in unübersehbarer Vielfalt auf der ganzen Welt, bei den so genannten Primitiven ebenso wie bei aufgeklärten, modernen Menschen, bei den Anhängern von Naturreligionen aber auch bei Christen, Hindus, Moslems oder Buddhisten. Ursprung und Bedeutung solcher Amulette sind in der Regel erforscht und bekannt und wer sie gemacht hat und wann, weiß man meistens auch. Von all diesen weltweit verbreiteten Amuletten bilden die tibetischen Toktschaks eine eigenständige und nirgendwo anders bekannte Gruppe mit originär tibetischem Charakter. Und es gibt nicht die geringsten Hinweise, wer sie gemacht hat und wann das gewesen sein könnte. Schriftliche Quellen sind nicht vorhanden, weder im Westen noch im tibetischen Schrifttum, naturwissenschaftliche Methoden zur Datierung von Metallen sind nicht bekannt, metallurgische Untersuchungen verraten nichts außer der Zusammensetzung der Legierungen, es gibt keinerlei archäologische Kontexte oder Erkenntnisse und bis heute wurden nirgendwo Gussformen für Toktschaks gefunden. Die von Gudrun John vorgelegte, breit angelegte Studie über Ursprung und Bedeutung von Toktschaks entwickelt sich so zu einem geistigen Abenteuer und zu einem Gang durch die tibetische Kultur und Geschichte. Dabei ist klar, dass der Beginn, sei es der Ursprung der Toktschaks oder der tibetischen Geschichte nicht in historischer Zeit, also bei König Songtsen Gampo im sechsten Jahrhundert n.Chr. liegt, sondern weit davor, im Neolithikum vielleicht oder, aus tibetischer Sicht, in den Mythen und Legenden der Enstehung der Welt und des Menschen, als das Dasein der Götter, Geister und Dämonen noch eng mit dem Leben der Menschen verbunden war. Das Alter von Toktschaks, tibetisch Thog lcag = „Blitzeisen“, manchmal auch Namtschaks, tibetisch gNam-lcag = „Himmelseisen“ genannt, ist nicht ermittelbar und nicht bestimmbar und der von der Autorin angegebene Rahmen vom 1. bis zum 19. Jahrhundert n.Chr. mag ohne weiteres noch in einen beachtlichen Zeitraum vor diesem Datum erweitert werden können. Man ist ein wenig an das ebenfalls noch unenträtselte Geheimnis der tibetischen Psi-Steine erinnert, jener ebenfalls nur in Tibet vorkommenden und dort hoch geschätzten Amulett- und Schucksteine aus vermutlich thermisch behandelten und auf diese Weise gemusterten Achaten, deren Technologie, Alter und Herkunft noch immer Rätsel aufgibt. Auch die Motive der Toktschaks helfen nicht weiter, sondern vertiefen das Geheimnis. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Toktschaks hat nämlich religiöse, buddhistische Motive, ist Darstellung von Gottheiten wie Vajrapani oder Acala oder bildet Kult- und Ritualgegenstände wie Vajra, Gantha oder Phurbu ab. Das verblüfft in der sonst so vom Buddhismus dominierten Bilderwelt Tibets und lässt an eine andere, komplexe Symbolwelt denken, die vielleicht eine viel ältere Geschichte hat. Das von Gudrun John publizierte Anschauungsmaterial ist jedenfalls überwältigend und übertrifft die wenigen bisher zu diesem Thema vorliegenden Veröffentlichungen um ein Vielfaches. Aus ihrer eigenen und einem halben Dutzend weiteren europäischen Sammlungen werden nicht weniger als 1072 Thoktschaks, geordnet nach Motivgruppen, teilweise in Originalgröße abgebildet, beschrieben und in die uns bekannte tibetische Formen- und Bilderwelt einzuordnen versucht. Das beginnt mit einfachen Ringen und Ringkombinationen über Scheiben mit mehreren durchbrochenen, teilweise offenen Kreisen, von John im Gegensatz zu anderen Autoren, die hier Gewandfibeln sehen, als Fruchtbarkeitssymbole identifiziert, bis zum Rad der Lehre, dem unendlichen Knoten und astrologischen Diagrammen und Kalendern. Einen besonders breiten Raum nehmen Tierdarstellungen ein, Drachen, Löwen und Tiger, Pferde mit oder ohne Reiter, Steinböcke, Hirsche und Yaks aber auch Schildkröten, Fische, Skorpione und verschiedene Arten von Vögeln. Eine besondere Bedeutung hat sicher der Khyung oder Garuda, halb Mensch, halb Vogel, eines der geheimnisvollsten Wesen der tibetischen Ikonographie, dessen mythischer Ursprung irgendwo in Asien gewiss tausende von Jahren zurückliegt. Mehrere Dutzend solcher Khyung-Toktschaks reihen sich zum Vergleich und laden ein zu Spekulationen über Alter und Stilentwicklung, Original und Fälschung. Nach raren buddhistischen Gottheiten, den Ritual- und Weihegegenständen und Schriftplatten mit Mantras folgt die große Gruppe der Miniaturen und Gebrauchsgegenstände, die von Töpfen, Steigbügeln und Kämmen über Löffel, Knöpfe, Gürtelhaken, Fibeln, Schmuckanhänger bis zu Gürtelschließen reicht. Es ist eine atemberaubende, schier unglaubliche Vielfalt unterschiedlicher, oft überraschender und in ihrer Vereinfachung oft hochkünstlerischer Objekte, deren sinnlich-haptischer Reiz durch die nur in Jahrhunderten erwerbbaren Spuren intensiver Benutzung noch gesteigert wird. Diesem zentralen oder Katalogteil, unentbehrlich für jeden, der sich für Toktschaks interessiert, stellt die Autorin die Ergebnisse ihrer langjährigen Feldforschung voran. Gudrun John hat bekannte tibetische Ärzte über die bisher nahezu unbekannte Verwendung von Toktschaks in der tibetischen Medizin interviewt und hat sich vor allem von älteren tibetischen Menschen, von Nomaden und Bauern, von Märchenerzählern und Handwerkern die Geschichten, Märchen und Mythen erzählen lassen, die sich um diese Amulette ranken. Geht man danach kann es Zweifel am übernatürlichen Ursprung von Toktschaks nicht mehr geben.

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