Autor/en: Wetter Evelin (Hrsg.)
Verlag: Abegg-Stiftung
Erschienen: Riggisberg 2024
Seiten: 200
Buchart: Klappenbroschur
Preis: CHF 85,00
ISBN: 978-3-905014-81-5
Kommentar: Michael Buddeberg
Welcher Textilliebhaber hat nicht schon die großartige Wiedergabe kostbarer Brokate, Goldstoffe oder gemusterter Samte auf Gemälden des späten Mittelalters oder der Renaissance bewundert. Eine erkennbare Gewebestruktur oder das Spiel von Licht und Schatten in Gewandfalten lassen fast vergessen, dass hier mit Pinsel und Pigmenten gearbeitet wurde. Eine Augentäuschung ähnlicher Art ist das Thema der Sonderausstellung 2024 der Abegg-Stiftung (bis zum 10. November), die zum ersten Mal der Darstellung von Textilien und deren besonderen Merkmalen in den textilen Künsten, gewidmet ist.
Rechtzeitig zu diesem Ereignis ist Band 26 der Riggisberger Berichte erschienen, ein Begleitbuch zur Ausstellung, das indessen den Bogen der Beispiele noch weiter spannt und vor allem ganz verschiedene inhaltliche Ausdeutungen des Phänomens in wissenschaftlicher Tiefe durchspielt. Juliane von Fircks untersucht die fast ikonische Bedeutung eines Textilmusters – aneinander gereihte Perlmedaillons mit Tieren – das zwischen dem vierten und 13. Jahrhundert nicht nur im Reich der Sasaniden, sondern auch in Zentralasien, in China, in Byzanz und schließlich auch in Europa zu einer Chiffre für Macht und Reichtum wurde. Auch Paramente bieten reiches Anschauungsmaterial für textile Augentäuschungen und hier vor allem Kaselkreuze mit den Bildern von Heiligen oder Szenen aus der Kreuzigung Christi. Juliette Calvarin befasst sich eingehend mit der Nachbildung des Samtmantels der Maria Magdalena auf verschiedenen Kaselkreuzen des 15. Jahrhunderts und den unterschiedlichen Sticktechniken zur Erreichung eines typischen Samtbildes. Anja Preiss schließlich widmet sich, auch dies eine besonders bei Kaselkreuzen angewandte, sticktechnische Spezialität, der Reliefstickerei, die in fast vollplastischen Darstellungen von Personen ihren Höhepunkt findet. Der nur mit einem Lendentuch bekleidete Christus am Kreuz auf einer Kasel des Halberstadter Domschatzes, um das Jahr 1500 ist hier ein herausragendes Beispiel für eine fast perfekte trompe-l´œíl. Evelin Wetter zeigt auf, wie kleinformatige Tapisserien des frühen 16.Jahrhunderts durch einen kunstvoll konstruierten Rahmen, der seinerseits auf einem Samt zu liegen scheint, der eigentlichen Darstellung Tiefe und Natürlichkeit verleiht und damit das tromp-l´œil-Erlebnis noch verdichtet. Mit einer seltenen Rarität beschließt Sabine Jagodzinski die Beispiele ungewöhnlicher Textilien. Es ist eine gestickte Doppelseite aus dem Stammbuch des Kaufmanns, Kunstagenten und politischen Korrespondenten Philipp Hainhofer (1578-1647), ein Eintrag des Pfalzgrafen August von Pfalz-Sulzbach, datiert mit 1614. Die hier angewandte textile Technik, eine extrem feine Lasurstickerei, ist bemerkenswert: aufgelegte Metallfäden werden von dicht an dicht gesetzten Überfangstichen in farbiger Seide auf dem Stickgrund fixiert. Die Illusion eines gemalten Bildes gelingt fast perfekt.
Einer der insgesamt sieben Beiträge – die zusammenfassende Einführung von Evelin Wetter eingerechnet – sei hier näher vorgestellt, da er das Thema „Textilien im Textil“ gleich doppelt und besonders einprägsam präsentiert. Stephanie Seeberg analysiert den sogenannten Tristanbehang, einen 1539 für die elsässische Familie Landsberg gefertigten, gestickten Wandschmuck, der im Leipziger Grassi-Museum für angewandte Kunst verwahrt wird. Ungewöhnlich ist hier, dass die Stickerei zwei Vorbilder hat, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Das untere, schmalere Register des trotz der fragmentarischen Erhaltung des immer noch gut 6 m langen Behangs, folgt Bild für Bild den in Holzschnitten gedruckten Illustrationen einer 1498 in Augsburg erschienenen Ausgabe des Tristanromans während das obere, etwa doppelt so breite Register in seiner Ornamentik osmanische Knüpfteppiche zitiert. Beide sind je nach dem Vorbild, ihrer Aussage und ihrer Bedeutung im Behang sticktechnisch unterschiedlich ausgeführt. Während die Tristan-Szenen das holzschnitthafte durch eine mittels der Materialien – Leinen, Metall und Seide – und zusätzlichem Detailreichtum zu einer Verlebendigung der Schwarz-Weiss-Drucke umgestalten, erinnern die einheitliche Oberflächenstruktur und das Material – Wolle – in dem, den Gesamteindruck bestimmenden oberen Teil an das geknüpfte Vorbild. Dieses ist, für den Kenner unschwer zu identifizieren, die aus heutiger Sicht extrem seltene Gruppe der Teppiche mit großgemustertem Holbeinmuster. Flechtbänder mit eingerollten Enden und kleinen Sternenmotiven bilden oktogonale Felder, im Wechsel gefüllt mit aus Flechtband gebildeten Rosetten und achtstrahligem Stern mit naturalistischen Rosenblüten.
Die Umsetzung von Teppichmustern in Stickerei ist in jener Zeit kein Einzelfall. Vor allem in der Schweiz, im oberrheinischen und süddeutschen Raum aber auch in England und Frankreich haben sich vergleichbare Beispiele erhalten. Einige von ihnen werden von Stephanie Seeberg in Bild und Text erwähnt. Sie sind ein Phänomen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, einer Zeit voller Umbrüche: die Reformation, sich wandelnde Gesellschaftsstrukturen, eine zunehmende globale Vernetzung und die Verbreitung der Buch- und Druckkunst. Die Verbindung zweier so entfernt voneinander erscheinenden Medien wie Buchillustration mit dem Muster anatolischer Teppiche in einem gestickten Wandbehang ist ein kulturhistorisches Schlüsselobjekt für eine Zeit, in der das Mittelalter durch eine neue Epoche abgelöst wird.