Die Welt des tibetischen Buddhismus

Autor/en: Wulf Köpke, Bernd Schmelz (Hrsg.)
Verlag: Museum für Völkerkunde Hamburg
Erschienen: Hamburg 2005
Seiten: 1040
Ausgabe: illustrierte Broschur
Preis: € 16.95
ISBN: 3-9809222-4-3
Kommentar: Michael Buddeberg, Mai 2005

Besprechung:
Sie haben ganz richtig gelesen: Mehr als tausend Seiten Tibet, mit hunderten von Abbildungen, für den Preis eines Taschenbuchs. Zieht man die Mitteilungen aus dem Museum (lesenswert ein Beitrag des Journalisten Hajo Schiff: „Neger im Louvre“– über das ethnologische Objekt zwischen Kunst und Wissenschaft“) ab, bleiben noch immer gute 950 Seiten anspruchsvoller Information beileibe nicht nur über die Religion, sondern auch über viele andere Aspekte des alten und neuen Tibet und der Mongolei, über das Leben und über die materielle Kultur dieser Völker, die allesamt die tibetische Form des Buddhismus praktizieren. Das ganze ist der Katalog oder besser das Begleitbuch einer gleichnamigen Ausstellung, die im Hamburger Museum für Völkerkunde bis zum 27.11.2005 zu sehen ist. Es ist eine Ausstellung, die ohne jede Leihgaben ganz allein aus dem reichen Bestand des Museums zusammengestellt wurde, das sich damit als eine bisher selbst in Fachkreisen kaum bekannte Fundgrube von Objekten aus dem Kulturraum des tibetischen Buddhismus erweist. Freilich fehlen in dieser Sammlung die spektakulären, kunsthistorisch bedeutsamen und kostbaren Objekte, wie sie in Tibet-Ausstellungen des vergangenen Jahrzehnts – etwa in Zürich, Bonn, Albuquerque, Madrid oder Chicago – bewundert werden konnten. Die Stärke dieser Sammlung liegt vielmehr in ihrer kulturgeschichtlichen Vollständigkeit, mit der Religion und materielle Kultur repräsentiert sind. Es gibt in Europa nur wenige Sammlungen, die einen ähnlich umfassenden Begriff vom geistigen Reichtum und der Vielfalt des tibetischen Buddhismus aber auch vom täglichen Leben der Menschen auf dem Dach der Welt vermitteln können. Hinzu kommt, dass die wesentlichen Grundlagen dieser Sammlung bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts gelegt wurden, als das Museum wesentliche Teile der Schätze erwerben konnte, die Sammlungsreisende wie Hans Leder (mehrere Mongolei-Reisen von 1892 bis 1905) und Walther Stoetzner (Ost-Tibet-Expedition 1914) zusammengetragen haben. So waren viele der von Stoetzner erworbenen Gebrauchs- und Haushaltsgegenstände, Tee-, Bier- und Wasserkannen, Trinkschalen, Tsampadosen, Feuerzeuge, Börsen, Kleidungsstücke und vieles andere mehr, schon zu ihrer Zeit Raritäten, wie Stoetzner in seinen akribischen Aufzeichnungen vermerkt hat. Darüber hinaus blieben Objekte des täglichen Bedarfs oft gerade wegen ihrer schmucklosen Alltäglichkeit von Sammlern wie von der tibetkundlichen Fachliteratur unbeachtet, bis es sie einfach nicht mehr gab. Ein anderes Beispiel: Die in Tibet bis heute lebendige, aber auch bei Kennern des Landes so gut wie nicht wahrgenommene Kunst der Brettchenweberei mit einer archaischen und oft rätselhaften Musterwelt, ist bereits von Stoetzner beachtet und dokumentiert worden. Natürlich sind alle Objekte im Katalog abgebildet (bis auf einige Thangkas und Kleidungsstücke durchweg in schwarz-weiß) und sorgfältig beschrieben, doch geht der Inhalt des Buches über einen Katalog weit hinaus. Mehr als drei Dutzend wissenschaftliche Beiträge erschließen den Kulturraum in beispielhafter Tiefe. Einführenden Essays über den Buddhismus und seine tibetische Ausprägung folgt der Beitrag des Indologen Karl-Heinz Golzio „Was ist tibetisch am tibetischen Buddhismus“, der die historische Entwicklung und die verschiedenen Schulen und ihre Lehren erläutert. Weitere Beiträge befassen sich mit der Bon-Religion des legendären vorbuddhistischen Zhangzhung-Reiches, deren Einfluss auf den tibetischen Buddhismus oft unterschätzt wird, und mit dem Buddhismus in China, Nepal, in der Mongolei, mit dem Schamanismus bei den russischen Kalmücken sowie mit einer Bestandsaufnahme des tibetischen Buddhismus in tibetischen Exilgesellschaften und in der westlichen Welt. In diesem Zusammenhang ist auch das knappe Dutzend Beiträge über tibetische Thangkas zu erwähnen, in denen Bilder aus der Hamburger Sammlung einer genauen ikonographischen Deutung unterzogen werden. Der ungemein kenntnisreiche und sorgfältige Aufsatz von David Jackson über ein Rollbild der Jo nang pa-Schule aus dem 17. Jahrhundert geht weit über die Hamburger Sammlung hinaus und stellt dieses wohl in der Mongolei entstandene Bild eines berühmten Lama in den ihm gebührenden kunsthistorischen Zusammenhang. Das Alltagsleben der Tibeter und Mongolen ist schließlich nicht nur durch die Sammlungsgegenstände dokumentiert, sondern findet Ausdruck in zahlreichen Beiträgen. Veronika Ronge berichtet über Kleidung und Schmuck in Tibet und geht der Frage nach, was die Tibeter essen und trinken. Das Verhältnis tibetischer Nomaden zu ihren Nutztieren kommt zur Sprache, ebenso wie der Brauch, auch verstorbenen Tieren ein materielles Gedenken zu bewahren. Das heikle Thema der Gewalt in der von der Religion her eigentlich höchst friedfertigen tibetisch-buddhistischen Gesellschaft, die vielfache Präsenz von Waffen, die überdies mit buddhistischen Symbolen geschmückt sind, ist behandelt, ebenso wie die in Tibet und in der Mongolei in der Ritual- und Volksmusik gebräuchlichen Musikinstrumente. Die Summe der Informationen in diesem Buch ist überwältigend und kann in dieser kurzen Würdigung auch nicht annähernd aufgezeigt werden. Hervorgehoben sei nur noch der Beitrag des Sinologen und Ethnologen Andreas Gruschke, der versucht, die Frage „Wer sind die Tibeter?“ zu beantworten. Hier sei nur soviel verraten, dass es auf diese Frage ganz verschiedenen Antworten gibt, je nachdem, ob man die geographische, die sprachlich-kulturelle oder die historisch politische Identität im Auge hat. Und auch bezogen auf diese drei Aspekte können die Antworten je nach Standpunkt unterschiedlich ausfallen. Doch lesen Sie selbst! Besorgen Sie sich noch heute dieses bemerkenswerte Buch. Es sollte nicht verwundern, wenn es sehr schnell vergriffen ist.

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