Autor/en: Helen Hirsch, Christoph Wagner (Hrsg.)
Verlag: Hirmer Verlag, Kunstmuseum Thun
Erschienen: München, Thun 2024
Seiten: 256
Buchart: Hardcover
Preis: € 42,00
ISBN: 3-978-7774-4298-3
Kommentar: Michael Buddeberg
Gestickt, gewebt, gewirkt oder geknüpft – sofern die Erzeugnisse dieser textilen Techniken nicht mit dem Attribut antik versehen werden können, werden sie gemeinhin bestenfalls dem Kunstgewerbe zugeordnet. Dass sich textiles Gestalten im 20.Jahrhundert zu einer ernsthaften, der Abstraktion nahestehenden Kunstform entwickelt hat, ist wenig bekannt. Allenfalls die Weberin Gunta Stölzl (1897-1983) mit ihren phantasievoll gewirkten Wandbehängen mag textilbewussten Kunstfreunden ein Begriff sein. Dass aber der Schweizer Maler, Kunsttheoretiker und Kunstpädagoge Johannes Itten (1888-1967), lehrender Meister am frühen Bauhaus in Weimar, sehr wesentliche theoretische und vor allem materielle Beiträge zur textilen Kunst des 20. Jahrhunderts geleistet hat, ist indessen so gut wie unbekannt. Dem Kunstmuseum Thun ist eine äußerst sehenswerte Ausstellung zu danken (bis zum 1. Dezember 2024), die die Bedeutung dieser beiden Protagonisten für die textile Kunst im 20.Jahrhundert ins rechte Licht rückt. Begleitend wurde dazu ein großartiges Katalogbuch bei Hirmer publiziert.
Erstmals begegnet sind sich Stölzl und Itten am Bauhaus in Weimar. Johannes Itten war es, der die Studentin Gunta Stölzl in ihrem Bestreben unterstützte, an dieser männerdominierten Schule eine Frauenklasse und schließlich eine Werkstatt für Weberei einzurichten und der damit die entscheidende Weiche für ihren weiteren Lebensweg stellte. Auch wenn die Bauhaus-Karrieren für beide mit Unfrieden endeten – Itten verließ das Bauhaus nach Differenzen mit Gropius schon 1924 während Stölzl sich aus familiären Gründen veranlasst sah, ihre sehr erfolgreiche Tätigkeit am mittlerweile in Dessau etablierten Bauhaus 1931 zu kündigen und in die Schweiz zu emigrieren – haben sich die Wege von Stölzl und Itten immer wieder gekreuzt[MB1] .
Gunta Stölzl war am Bauhaus Jungmeisterin der Webereiwerkstatt und schuf dort ebenso wie in ihren späteren Schweizer Textilwerkstätten richtungsweisende moderne Dekorations- und Möbelstoffe und Wandbespannungen, bekannte sich aber vorrangig stets als Handweberin von Gobelins und Knüpfteppichen. Ihr in voller Länge abgedruckter Bericht aus dem Jahre 1967 über die schwierigen Anfänge als junge Studentin am Bauhaus, die Einrichtung der Weberei-Werkstatt und das autodidaktische „learning by doing“ von Webtechniken und Bindungsvarianten, des Färbens und fantasievoller Materialzusammenstellungen bis zu lukrativen Auftragsarbeiten für die Textil- und Möbelindustrie ist lebendige Bauhausgeschichte aus erster Hand.
Zu Johannes Itten wird in dem Essay des Kunsthistorikers und Bauhausexperten Christoph Wagner dessen These, dass Ittens Beschäftigung mit textiler Gestaltung das gesamte Koordinatensystem seiner künstlerischen Arbeit, in der bisher die Malerei, die Theorie der Kunst der Farbe und sein kunstpädagogisches Konzept im Vordergrund standen, verändert und erweitert hat, durch eine Vielzahl bisher wenig bekannter Fakten untermauert. Sei es in der Züricher Ontos-Handweberei (1923-1926, an deren Einrichtung auch Gunta Stölzl mitgewirkt hat), als Leiter der Fachschule für Flachgewebe in Krefeld (1936-1938) oder als Direktor der Kunstgewerbeschule in Zürich (1938-1954), um neben seinen erfolgreichen privaten Kunstschulen in Stuttgart und Berlin nur einige seiner Funktionen zu nennen, hat sich Itten unter der Idee der industriellen Textilproduktion immer systematisch mit textiler Gestaltung befasst und diese zum Gegenstand seines pädagogischen Wirkens gemacht.
Reiches Bildmaterial, auch aus privaten Sammlungen und zum großen Teil bisher nie publiziert, begleitet die Texte. Neben zahlreichen Fotografien von der frühen Bauhauszeit bis zu den Wirkungsstätten in der Schweiz und von Ausstellungen und realisierten Raumausstattungen, sieht man natürlich freie Zeichnungen, Entwürfe von Teppichen, Wandbespannungen, Dekorations- und Möbelstoffen, vor allem aber eine Fülle von Originalen, gewebt und geknüpft, aus allen Schaffensperioden. Das alles lässt Entwicklungen, Stil und Handschrift erkennen. Während Ittens Werke überwiegend einen geometrischen Bildaufbau zeigen, überzeugen Stölzls freie Arbeiten, vor allem ihre späten Gobelins und Wandbehänge in Form und Farbe durch vollendete Abstraktion und Harmonie in Form und Farbe. Ittens Teppiche, hier in erste Linie zwei wohl posthum nach seinen Entwürfen geknüpfte Exemplare sind wunderbare Beispiele für die von ihm gelehrte Farbenkontrastlehre, die er in seinem Best- und Longseller „Kunst der Farbe“ publiziert hat. Sie erinnern an Bilder von Josef Albers, der seine Karriere ebenfalls am Bauhaus begann. Bei Gunta Stölzl fasziniert dann der breite Gestaltungsspielraum für Möbel-, Dekorations- und Vorhangstoffe, für die sie neben ihren freien Arbeiten zur der vielleicht bekanntesten Textildesignerin des 20 Jahrhunderts wurde. Zu erwähnen ist noch, dass viele Arbeiten von Zeitgenossen, darunter auch von Ittens Frau Anneliese, eine Idee von der Wirkung der Arbeiten von Stölzl und Itten auf das textile Gestalten ihrer Zeit vermitteln.
Beider Lebenswege und Werk wurden entscheidend durch das Bauhaus geprägt. Es ist daher ein guter Schluss für diese Buchbesprechung, dass der gerne männlicher Arroganz zugeschriebene Kalauer „wo wolle, ist auch ein weib,/ das webt und wär´s zum zeitvertreib“ die frauenfeindliche Interpretation als falsch entlarvt wird. Tatsächlich war er ein Bestandteil eines karnevalesk-burlesken Singspiels mit dem Titel „9 Jahre Bauhaus“, das im März 1928 im Rahmen der Abschiedsfeier für Walter Gropius am Dessauer Bauhaus vorgetragen wurde. Der Text findet folgende Fortsetzung: „es entstehen die reinsten wunda / unter muche, später gunda“, die die Bewunderung von Gunta Stölzl und die Wertschätzung ihrer Leistung durch ihre Kollegen am Bauhaus trefflich zum Ausdruck bringt.
Das Buch ist ein bedeutender Beitrag zur Kunstgeschichte, indem es die Textilkunst des 20. Jahrhunderts allen anderen Kunstgattungen gleichstellt.