Ost-Tibet – Brücke zwischen Tibet und China

Autor/en: Christoph Baumer
Verlag: Akademische Druck- und Verlagsanstalt
Erschienen: Graz 2002
Seiten: 254
Ausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
Preis: EUR 69.–
ISBN: 3-201-01788-4
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Wenn heute in der öffentlichen Diskussion von Tibet die Rede ist, so ist eigentlich immer die „Autonome Region Tibet“ gemeint, jenes seit 1965 in der Verfassung der Volksrepublik China ausgewiesene Konstrukt mit einer verfassungsmäßig garantierten vermeintlichen Autonomie der dort lebenden Minderheit. Wenn überhaupt, richten sich die Augen der Welt auf diese Region mit ihrer Hauptstadt Lhasa, dem ehemaligen Regierungssitz des Dalai Lama, dem Kristallisationspunkt politischer und ideologischer Auseinandersetzungen über Schicksal und Zukunft Tibets. Auch Tibet-Tourismus findet so gut wie ausschließlich dort statt, in den früheren zentraltibetischen Provinzen Ü und Tsang, in Lhasa, Tsethang, Shigatse und Gyantse und in den wenigen Klöstern, Tempeln und Palästen, in denen die chinesische Administration versucht, tibetische Kultur und Religiosität zu Folklore und Sightseeing herabzustufen. Tatsächlich aber ist die Autonome Region Tibet, mit 1,2 Millionen Quadratkilometern zwar in der Größe mit Mitteleuropa vergleichbar, nur der kleinere Teil des eigentlichen tibetischen Kulturraums. In den chinesischen Provinzen Qinghai, Sichuan, Yünnan und Gansu leben heute mehr Tibeter als in der Autonomen Region, und sie leben sehr viel tibetischer als ihre Brüder und Schwestern in Lhasa. Es sind die alten tibetischen Provinzen Amdo und Kham, in denen sich fernab jeglichen Tourismus, unbemerkt von der Weltöffentlichkeit und unter den Augen der chinesischen Verwaltung tibetische Traditionen, die buddhistische Lehre und religiöses Brauchtum nach Jahren der Unterdrückung und Zerstörung wieder entfalten und beleben. Das Buch von Christoph Baumer über Ost-Tibet zeigt ein unbekanntes, faszinierendes Tibet, und es erzählt die vielfältige Geschichte einer Region, die in prähistorischer Zeit die Wiege der tibetischen Kultur war. Zunächst aber entdecken wir die großartigen Landschaften Amdos und Khams, grundverschieden beide, einzigartig und so ganz anders als das zentrale Tibet. Da ist das Grasland Amdo, eine nicht enden wollende Horizontale zwischen 4000 und 5000 Meter, eine unendliche Weite, durch die noch heute wie vor tausend Jahren die Nomaden mit ihren Yakherden ziehen und die dank ihrer Anpassungsfähigkeit die Herausforderungen eines extremen Klimas meistern. Schnee- und Hagelstürme wechseln mit unbarmherzigem Sonnenschein und tauchen das Land in nie gesehene Stimmungen. Und da ist Kham, eine zerklüftete Gebirgslandschaft, ein Ozean von Bergen, durch den sich die vier großen Ströme Südostasiens, Mekong, Salween, Yangtse und Hoang Ho, mal in engen düsteren Schluchten, mal in breiten fruchtbaren Tälern hindurchwinden. Amdo und Kham, das ist eine Welt zwischen Himmel und Erde, belebt nicht nur durch Menschen und Tiere, sondern auch durch unzählige unsichtbare Götter und Geister, Gottheiten des Himmels, der Gestirne, der Berge, des Erdreichs, der Gewässer sowie des buddhistischen wie des Pantheons der Bön-Anhänger. Die Tibeter in Kham und Amdo leben in diesen zwei Welten, der sichtbaren und der unsichtbaren, die beide belebt und beseelt sind. Gebetsmühlen, heilige Bücher, mit Mantras bedruckte Gebetsfahnen, Manisteine sind das überall anzutreffende Kommunikationselement zwischen den Menschen und den unsichtbaren Mächten. Das war nicht immer so. Die 1950 beginnende „Befreiung“ Tibets durch China begann in diesen beiden Provinzen und es folgten Jahrzehnte totaler Zerstörung aller materiellen und immateriellen Werte. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist Ost-Tibet der sichtbare Beweis, daß der religiöse Geist Tibets stärker scheint als der Wahn kommunistischer Gleichmacherei. In ganz Ost-Tibet ist der Wiederaufbau der Klöster in vollem Gange. 60% der 3000 Klöster in Amdo und Kham sind wieder in Betrieb und auch die gewaltsame Zerstörung der Klosteruniversität Larung Gar, die Ausweisung und Zerstreuung eines großen Teil der über 10.000 Nonnen und Mönche im Jahre 2001, wird diesen Trend kaum aufhalten können. Die jahrzehntelangen Repressionen vermochten den Stolz und das Selbstbewußtsein der Khampas und Amdopas nicht zu brechen, sie haben ganz im Gegenteil ihre kulturelle Identität gestärkt. So nehmen wir teil an einem Reiterfest in Litang mit traditioneller Akrobatik zu Pferde und prachtvollen Trachten von Männern und Frauen, wir besuchen Parkhang, Tibets einzige vollständig erhaltene traditionelle und in Betrieb befindliche Druckerei mit hunderttausenden von originalen Druckstöcken, wir sehen Kathedralen und Türme, ganz aus Gebetsfahnen errichtet, eine fragile Textilarchitektur, die durch den Wind zum Mittler zwischen Himmel und Erde wird, wir feiern Losar, das tibetische Neujahrsfest, zusammen mit buddhistischen und Bönpo-Mönchen und Tscham-Tänzen, wir begleiten Golok-Nomaden auf ihrer winterlichen Pilgerfahrt um den Heiligen Berg Amnye-Machen und besuchen Gyanak umweit von Jushu, dem alten Jyekundu, wo mehr als zwei Millionen Manisteine die größte Mani-Mauer der Welt formen. Kumbum Jampaling, das zu Ehren Tsongkhapas, des Reformators aus Amdo 1560 im chinesischen Mingstil errichtete, berühmte Kloster und das 200 Jahre jüngere Labrang, sind die einzigen unzerstört gebliebenen Stätten. Doch die vielen neuerrichteten Klöster und Tempel in Amdo und Kham atmen dank ihres traditionellen Baustils und ihrer Ausstattung mit Wandmalerei, Statuen, Textilien und Teppichen den Geist lebendiger Vergangenheit. 250 großartige Farbbilder von traumhaften Landschaften, von stolzen und selbstbewußten Menschen in traditioneller Tracht, von Mönchen und Novizen bei Gebet und Ritual, von Klöstern, Tempeln, Stupas und Lhatses, begleiten einen Text, der kenntnisreich und einfühlsam die wechselhafte Geschichte der tibetischen Provinzen Amdo und Kham im Spannungsfeld zwischen Lhasa und Peking darstellt. Das Buch gibt Zeugnis von der mutigen Selbstbehauptung der Osttibeter in den schwierigen Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vom Engagement der Provinzen Kham und Amdo für die tibetische Sache. Ost-Tibet ist ohne Zweifel eines der gelungensten und wichtigsten Tibet-Bücher der letzten Jahre. (- mb -)

Print Friendly, PDF & Email