Der geheime Tempel von Tibet – Eine mystische Reise in die Welt des Tantra

Autor/en: Ian A. Baker, Thomas Laird
Verlag: Bucher Verlag
Erschienen: München 2000
Seiten: 216
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag in illustriertem Schuber
Preis: DM 148.– (bis 31.12.2000: DM 128.–)
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Im alten Tibet einer der geheimsten und unzugänglichsten Orte – heute ein Museum? Nicht ganz, wie ich selbst vor einigen Jahren erfahren habe. Man muß den diensthabenden Mönch des Lukhang-Tempels in Lhasa schon sehr eindringlich bitten und Gründe anführen, wenn man Zugang zu dem fensterlosen Raum mit den eindrucksvollen Wandmalereien im obersten Stockwerk erhalten will. Und als ich dann auch noch fotografieren wollte, winkte er ab, zu heilig seien diese Bilder, man dürfe sie nicht forttragen. Erst meine Versicherung, diese Aufnahmen nur für mich selbst, zur eigenen Belehrung zu benötigen, bewog ihn dann, einige wenige Aufnahmen zu gestatten. Ich mußte ihm versprechen, diese Fotos niemandem zu zeigen und erst recht nicht aus der Hand zu geben. So ist es auch geschehen. Und nun liegen diese nur für die Augen der Dalai Lamas bestimmten Bilder in einem weltweit verbreiteten Prachtband vor, der dank der hervorragenden Ausstattung, der faszinierenden Aufnahmen und des einfühlsamen Textes sicher viele Liebhaber finden wird. Bei aller Bewunderung für das bibliophil gestaltete und eine Auszeichnung verdienende Buch bleibt ein Zweifel, ob verlegerischem Ehrgeiz nicht Grenzen gesetzt sein sollten. Die auf den Wandbildern dargestellten spirituellen Praktiken gehören zur höchsten Stufe des tibetischen Tantra und hier insbesondere zur Dzogchen-Schule, der Lehre der „Großen Vollendung“. Die mystische Praxis der buddhistischen Tantras wurde immer nur mündlich vom Meister an den Schüler weitergegeben, eine Geheimlehre also, deren Ausübung ohne richtige Unterweisung, ohne jahrelanges Streben zu krassen Missverständnissen führen kann. Dieser Zweifel an dem Buch wird auch durch den glänzend gelungenen Versuch des Religionswissenschaftlers Baker, die tiefgründige Spiritualität der Bilder zu erklären, nicht ausgeräumt. Der Text kann das notwendig jahrelange Bemühen, die vollständige Befreiung von Körper, Rede und Geist zu erreichen, nicht ersetzen. So werden die visionären Grundlagen dieser einzigartigen Wandmalerei wohl weithin unverstanden bleiben. Die Faszination durch diese Bilder wird dadurch aber kaum geringer. Die Wandmalereien im Lukhang sind in der tibetischen Kunstgeschichte ohne Vorbild. Nirgends sonst ist die esoterische Praxis der tantrischen Tradition Tibets mit solcher Kühnheit künstlerisch umgesetzt, nirgends sonst hat die tibetische Kunst zu einer derart harmonischen Synthese zwischen schöpferischer Aussagekraft und philosophischer Tiefe gefunden. Von der bekannten Bildersprache buddhistischer Kunst in Tibet unterscheidet sich die Wandmalerei des Lukhang dadurch, daß sie nicht nur Buddhas und andere Emanationen aus der überreichen tibetischen Ikonographie darstellt, sondern auch gewöhnliche Menschen, die von ihrer Sehnsucht nach spiritueller Befreiung auf einen besonderen Weg geführt wurden. Neben Alltagsszenen stellen sie das Bewußtsein dar, das als ein sich im Körper verzweigendes Netz von Energiekanälen gesehen wird, sowie Yogis, aus deren Köpfen Flammen hervorlodern, die über den Himmel fliegen oder in deren Augen sich erhabene Visionen spiegeln. Diese vor einen Hintergrund von Blau- und Grüntönen gestellten Szenen der Lukhang-Bilder spielen sich in Landschaften ab, in denen Himmel und Berge einander begegnen oder Wasserfälle aus Wolken herabstürzend sich durch tiefe Klüfte ergießen. Mit ihrem Handlungs- und Motivreichtum und ihrer Lösung vom traditionellen Regelkanon unterscheiden sich die Wandmalereien des Lukhang von der uns bekannten religiösen Kunst Tibets. Wir begegnen einer surrealen Bilderwelt, die an die Werke eines Hieronymus Bosch oder Pieter Breughel erinnert und die eine Antwort gibt auf die rhetorische Frage André Bretons im Ersten surrealistischen Manifest: „Könnte nicht alles Jenseitige auch unmittelbar hier sein, jetzt, in der Gegenwart, hier bei uns?“ Die Wandmalerei im Lukhang enthüllt das unablässig strömende Universum, nach dem die Surrealisten so sehnlich suchten, wenn sie die Grenzen zwischen Illusion und Wahrheit, innerer und äußerer Wirklichkeit verwischten. Das große Thema von Zeugung, Geburt und Tod, vom Aufenthalt im Bardo, dem tibetischen Zwischenreich des Todes, und von der Wiedergeburt, ist nur eines, wenn auch ein zentrales, das durchaus real und sprirituell zugleich dramatisch in Szene gesetzt wird. Es findet seine Entsprechung in den Techniken des Sexualyogas, in der Malerei dargestellt durch die ekstatische Vereinigung von Gottheiten, von Dakinis und Dakas, von Siddhas mit ihren Gefährtinnen. Ob metaphorisch oder real verstanden: die ekstatischen Bilder symbolisieren den ewigen Tanz von Weisheit und Erbarmen, von Leerheit und Seligkeit – und sie laden ein zu Fehlinterpratationen. Diesen Missverständnissen im Zusammenhang mit dem Tantra läßt sich am besten vorbeugen, wenn man seine Geheimnisse in aller Behutsamkeit enthüllt – und so gab seine Heiligkeit Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, sein Einverständnis, diese Bilder aus dem Lukhang einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen: „Wahre Spiritualität heißt nicht Visualisierung oder Erzeugung von Glückseligkeit – sondern sich in einen Zustand allumfassenden Mitgefühls für alle fühlenden Wesen zu entwickeln. In diesem Sinne lege ich Ihnen dies Wandgemälde aus einem verborge

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