Karma, der Geschichtenerzähler – Tibetische Legenden

Autor/en: Corneille Jest
Verlag: Benziger Verlag
Erschienen: Düsseldorf und Zürich 2000
Seiten: 264
Ausgabe: gebunden mit Schutzumschlag
Preis: DM 39.80
ISBN: 3-545-20172-4
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
1961, im Jahr des metallenen Büffels, unternahm der Autor eine Pilgerreise zu den Tempeln, Schreinen und heiligen Bergen der entlegenen Region Dolpo. Der beschwerliche Weg nach Dolpo ist zunächst derselbe wie nach Mustang. Er führt durch die tiefe Schlucht des Kali Gandaki zwischen den Massiven des Annapurna und Dhaulagiri. Dann aber gilt es noch eine Kette von Gipfeln mit über 5000 Meter hohen Pässen zu überqueren, bis man die einsamen Täler des Dolpo erreicht. Das Tarap-Tal mit seinen Dörfern, Tempeln und Heiligtümern, umgeben von Terassenfeldern und Hochweiden, ein getreues Abbild des ländlichen tibetischen Lebensraumes, ist Ausgangspunkt der Pilgerreise nach Shey, nach Po und rund um den heiligen Berg Kula. Reisebegleiter ist Karma, ein tibetischer Nomade und Yakzüchter, Wanderhirte aus Shungru, ein erfahrener Karawanenführer und ein weiser Mann. Im Gegensatz zu den eher schweigsamen Bauern, Hirten und Nomaden der Region ist Karma der geborene Geschichtenerzähler, und es gibt keine Episode der Reise, die er nicht mit Geschichten, Legenden und Sprichwörtern zu begleiten weiß. Vor allem sind es die friedvollen langen Abende und Nachtstunden beim verlöschenden Herdfeuer mit einem Krug Chang, dem traditionellen Gerstenbier, die uns tief in die Gedanken- und Vorstellungswelt der Drogpa, der Schaf und Yak züchtenden Nomaden im Westen des tibetischen Hochlandes hineinführen. Zauberer, schöne Hirtenprinzessinen, sprechende Yaks und heilige Lamas, Wesen aus dem Reich tibetischer Mythen und Märchen bevölkern die Geschichten von Karma. Wert und Reiz dieses Buches ist aber nicht allein die Sammlung tibetischer Legenden sondern die getreue Beschreibung des ganzen „lingkor“, der ganzen Pilgerreise von ihrer Vorbereitung bis zum glücklichen Abschluß. Das Bedruken der mitgeführten Gebetsfahnen, der Segen des Lamas von Tarap und die sorgfältige Zusammenstellung des spärlichen Gepäcks stehen am Anfang. Ein Säckchen Tsampa, die Teeschale, ein in Ziegenhaut eingenähter Klumpen Butter, etwas Salz, Chili und ein Topf, eine Schleuder, ein kleiner Dolch mit silbernem Griff in fein gravierter Scheide, ein Dorn, einige Ahlen, eine kleine Spindel um Garn zu spinnen, ein Stück Yakhaut um die Sohlen der Stiefel zu reparieren, ein Beutel Trockenkäse und natürlich Gebetsmühle und ein Gau, der Amulettbehälter. So geht es auf die beschwerliche Fußreise über hohe Pässe, vorbei an stillen Seen und schäumenden Gebirgsbächen. Wir begegnen einer Karawane von Packziegen und Yaks, überstehen den Angriff wilder tibetischer Hirtenhunde und erleben den Wechsel zwischen Hagelsturm, Frost und unbarmherzigem Sonnenschein. Wir sind Gast in Einsiedeleien und in Hirtenzelten und leben von Brennesselsuppe und Buttertee, vergessen auch niemals das Trank- und Speiseopfer, drei Prisen Tsampa oder Tee ins Herdfeuer. Hexen und Geisterfallen, Aberglaube und Dämonenglauben, die Mumie eines 1959 verstorbenen Lamas, der mindestens zweimal im Jahr zum Leben erwacht – die Pilgerreise selbst ist eine Reise in die tibetische Seele. Realität und Phantasie gehen ineinander über. Erzählungen über Herkunft und Vergangenheit stehen neben erlebtem Brauchtum, Legenden neben kleinen Abenteuern, Mythen neben gelebtem Glauben, Märchen neben märchenhaftem Geschehen. Ein Buch, das wesentlich mehr bietet als der Titel verspricht. (- mb -)

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