Buddhas Bergwüste – Tibets geheimes Erbe im Himalaya

Autor/en: Peter van Ham, Aglaja Stirn
Verlag: Akade­mische Druck- u. Verlagsanstalt
Erschienen: Graz 1999
Seiten: 192
Ausgabe: Fester Einband mit Schutzumschlag
Preis: DM 98
ISBN: 3-201-01720-5
Kommentar: Michael Buddeberg, November 1999

Besprechung:
Westtibet – hier verstanden im weitesten Sinn, das heißt der Westen des gesamten tibeti­schen Kulturraumes, dort, wo die westlichen Ausläufer des Himalaya, des Transhimalaya und des Karakorum eine ausgedehnte Hochgebirgslandschaft bilden – ist eines der unzugänglichsten, unerschlossensten, geheimnisvollsten und faszinierendsten Gebiete der Erde. Die geographische Situa­tion, vor allem aber politische Umstände, die teilweise Zugehörigkeit zum kommunistischen China, die Kulturrevolution und die bis heute andauernden Grenzstreitigkeiten zwischen Indien und China waren in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts dafür verantwortlich, daß die Weltkarte hier bis in die jüngste Zeit weiße Flecke zeigte. So ist auch kaum bekannt, daß diese Bergwüste ein „goldenes Zeitalter“ hatte, das etwa ein Jahrtausend zurückliegt. Im späten 10. Jahrhundert faßte dort der Buddhismus in den indischen Spätformen des Mahayana und des Vajrayana Fuß, es entstanden Akademien für buddhistische Studien, riesige Kloster- und Tempelkomplexe wurden gegründet, und die Künste erreichen einen grandiosen Höhepunkt in ihrer Entwicklung. Die zweite buddhistische Bekehrung Tibets und die Entwicklung einer spezifisch tibetischen Kunst nahmen von dort ihren Ausgang. In das Bewußtsein des Westens gelangte all dies erst Ende der 80er Jahre dieses Jahrhunderts, als nach der vor­sichtigen Öffnung Tibets durch China bekannt wurde, daß der Sturm der chinesischen Kulturrevol­tion auch das ferne Westtibet erreicht hatte und daß ehrwürdige Kloster- und Tempelanlagen wie Tsaparang und Tholing der Zerstörungswut engstirniger kommunistische Ideologie zum Opfer gefallen waren. Doch gottlob: Viele Dutzend solcher buddhistischer Kleinode befanden sich jenseits der chinesischen Grenze in den indischen Bundesstaaten Himachal Pradesh, Jammu und Kaschmir, in den Talschaften von Kinnaur, Spiti, Lahaul und Nubra, in Ladakh und in Zanskar. Während die letztgenannten Gebiete – weil besser erreichbar – inzwischen schon Bestandteile des Abenteuertou­rismus geworden sind, sind Kinnaur, Spiti, Lahaul und Nubra entlegene und nur über hohe Pässe im Sommer erreichbare Täler und Hochgebirgsregionen. Ihnen und einem kleinen Teil des Changthang, der riesigen Hochgebirgswüste Tibets, widmet sich dieses bemerkenswerte und schöne Buch, dessen Text und mehr noch dessen über 200 großartige Bilder einen Eindruck von diesen Ländern vermitteln, die, unberührt von westlichen Einflüssen, ihre traditionelle Kultur bis heute bewahrt haben. Der tibetische Einfluß in Religion, Brauchtum und Lebensart ist unverkennbar, jedoch sind schamanistisch animistische Vorstellungen hier ungleich lebendiger geblieben als in Tibet. Jeder Baum, jeder Strauch und natürlich jeder Berg oder See ist von einer Devi, einer Gottheit, bewohnt und diese sind beileibe keine abstrakten, entrückten Wesenheiten sondern sie besitzen alle Eigen­schaften des menschlichen Lebens, Liebe, Haß, Gier, Eifersucht und Freude. Auch die Polyandrie, die „Vielmännerei“, ist hier noch anzutreffen. Sie ist ein uraltes, traditionell gewachsenes Mittel gegen die Zersplitterung des wenigen fruchtbaren Grund und Bodens und gegen ungebremstes Bevölkerungswachstum und sie hat die starke Stellung der Frau in dieser Gesellschaft zur Folge: Gleichberechtigung ist hier kein Thema. Ein Schwerpunkt, vor allem des mit ausführlichen Bildlegen­den versehenen Bildmaterials, liegt in der Kunst dieser Region, in Skulptur und Wandmalerei aus den Dutzenden von Klöstern und Tempeln, die in den ersten Jahrhunderten dieses Jahrtausends ent­standen sind und von denen viele ihren Ursprung noch auf den großen Religionsstifter und Über­setzer Rinchen Zangpo zurückführen. Nakos und Pooh, Guru Ganthal und Karzok, vor allem aber die Klöster von Tabo und Lhalung künden von dem reichen Erbe dieser glorreichen Epoche in der Geschichte des Himalaya. Im Kontrast zu den Tälern von Kinnaur und Spiti, wo unter dem Einfluß eines milden Monsun oder von Gletscherflüssen bewässert sogar Äpfel und Aprikosen gedeihen, jedenfalls aber Gerste reift, steht die Hochgebirgsregion des Changthang, eine atemberaubende Landschaft, die zugleich Ruhe und Wildheit, Leere und Schönheit atmet. Dieser südöstlich von Ladakh und Zanskar liegende indische Teil des Changthang ist nur der kleinste Bruchteil der unendlichen nördlichen Hochebene Tibets, besitzt jedoch alle seine Charakteristika. Es ist eine aride Hochgebirgsfläche mit einer durchschnittlichen Meereshöhe von 4800 Meter, sanften Hängen, gewaltigen Hochebenen mit großen türkisfarbenen Süß- und Salzwasserseen und mit einem Licht, mit Farben, die auf dieser Erde einzigartig sind. Und ein immer wieder kaum zu glaubendes Phäno­men ist es, daß hier Menschen leben, Nomaden, die mit ihren Pashmina-Ziegen und mit ihren Yaks ein hochkompliziertes Weidemanagement betreiben, das ein Gleichgewicht zwischen Tierbestand und Weideland gewährleistet und das es ihnen ermöglicht, in dieser grandiosen aber menschen­feindlichen Umwelt zu überleben. Daß es auch hier ein Kloster mit 60 Mönchen des Gelugpa-Ordens gibt und daß sich hier die höchstgelegenen Gerstenfelder dieser Welt finden, sind weitere Wunder aus Buddhas Bergwüste. Ein engagiertes, informatives und wichtiges Buch für jeden, der an tibetischer Kunst und Kultur interessiert ist.

Print Friendly, PDF & Email