Traumwelt Tibet – Westliche Trugbilder

Autor/en: Martin Brauen
Verlag: Verlag Paul Haupt
Erschienen: Bern 2000
Seiten: 296
Ausgabe: hardbound
Preis: DM 76.–
ISBN: 3-258-05639-0
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Was haben Dagobert Duck, die Theosophin Helena Petrovna Blavatsky, der Regisseur Martin Scorsese, der Maler Nicolas Roerich, Adolf Hitler, einige Neonazis und Lobsang Rampa, Autor des Bestsellers „Das Dritte Auge“, gemeinsam? Sie alle sind an Tibet interessiert. Seit beinahe 400 Jahren ist Tibet das Ziel einer westlichen Pilgerschaft. Waren es anfangs vor allem Missionare gesellten sich mit der Zeit Forscher, politische Beamte, Spione, Reiseschriftsteller, Esoteriker und Abenteurer hinzu. Einige versuchten, ein möglichst objektives Bild zu zeichnen, die meisten aber konstruierten ein Tibet, das auf persönlichen Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen beruhte – viele von ihnen reisten nicht einmal wirklich hin, sondern erfanden ein eigenes Tibet: Tibet als Ort des Friedens, der Harmonie, des langen Lebens, der Wahrheit und Weisheit, der Spiritualität. Als Metapher dafür steht „Shangri-La“, ein Ort, der seit dem in millionenfacher Auflage verkauften Roman „Lost Horizon“ des Engländers James Hilton (1933) bekannt ist. Soweit die Presseinformation zu der gleichnamigen und sehenswerten Ausstellung im Völkerkundemuseum der Universität Zürich (bis etwa Mitte Mai 2001). Das dazu erschienene Buch des schweizer Tibetologen Martin Brauen vermittelt weit besser als es die Ausstellung zu leisten vermag, den Zugang zu Wurzeln und Problematik des Mythos Tibet, jenes klischeehaften und immer falschen Bildes von Tibet im Westen. Schon ganz am Anfang steht ein Irrtum: Als der Jesuitenpater Antonio de Andrade (1580 – 1634) wohl als erster Europäer Anfang des 17. Jahrhunderts das westtibetische Königreich Guge erreicht, ist er auf der Suche nach versprengten Christen, nach Abkömmlingen der Nestorianer, nach Anhängern des legendären Priesterkönigs Johannes. Durch diese Brille stellt er vermeintliche und tatsächliche Übereinstimmungen zwischen dem Christentum und der Religion der Tibeter fest, die das Tibetbild im Westen bis ins 18. Jahrhundert prägen. Daran können auch die weit objektiveren Feststellungen des Jesuiten Ippolito Desideri (1684 – 1733), der 1716 Lhasa erreicht und fünf Jahre in Tibet bleibt, nichts ändern – seine Aufzeichnungen bleiben geheimnisvollerweise bis ins 20. Jahrhundert unveröffentlicht. Mit George Bogle (1746 – 1781), einem der ersten nichtklerikalen Reisenden auf tibetischer Handelsmission im Auftrage der britischen East India Company beginnt sich das Tibet-Bild zu ändern. Doch auch diese frühen Reisenden, Forscher und Abenteurer entdeckten Tibet nicht eigentlich sondern sie schufen wiederum ein eigenes Bild, das ihre Herkunft, ihre Interessen und die vorgeprägten Erwartungen ihrer Leserschaft wiederspiegelt. Mit dem militärischen Eroberer Younghusband (1904), Charles Bell und zuletzt Hugh Richardson hätte ein Tibet, wie es wirklich ist, bekannt werden können, hätten nicht westliche Esoteriker und Okkultisten bereits ein neues und dauerhaftes Klischee geschaffen, Tibet als Ursprung und Hort menschlicher Weisheit. Helena Petrovna Blavatsky (1831 – 1891), Begründerin der Theosophie, Ferdinand Ossendowski (1876 – 1945), der Maler und Philosoph Nicolas Roerich (1874 – 1947) und einige andere bereiten den Boden, auf dem der Mythos des sakralen Tibet üppig sprießt. Tibet wird zur Quelle über das Wissen von den Ursprüngen der Menschheit, über außerirdische Besuche, von den geistigen Kräften des Menschen, Möglichkeiten der Lebensverlängerung, der Erhaltung des Friedens, ja sogar militärische, politische und wissenschaftliche, insbesondere jedoch philosophische unbd spirituelle Geheimnnisse verbergen sich in dem schwer zugänglichen Land auf dem Dach der Welt. Arische Lamas, rassistische Theorien der Theosophie, der Agarthi-Kult schließlich, leiten über zum Nationalsozialismus und zur Theorie seines tibetischen Ursprungs. Das Interesse Himmlers an Tibet ist zwar verbürgt, reduziert sich aber bei genauer Prüfung auf den Auftrag an die Expedition Schäfer, ein Super-Steppenpferd für Kriegszwecke zu züchten. Dennoch wirken diese Mythen in einer neonazistischen Okkult-Literatur fort, in der Hitler gar als göttliche Inkarnation, als ein Bodhisattva, als Tantra-Meister aus Shamba-La angesehen wird (Serrano, chilenischer Faschist, geb. 1917). Parallel zu diesem abstrusen Tibet-Bild hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, vor allem seit der Präsenz tibetischer Lamas und tibetischer Kultur im Westen ein Trivial-Bild Tibets entwickelt, das nicht weniger fatal ist. Spielfilme und Comics, vor allem aber Kommerz und Werbung bedienen sich der Tibet-Klischees wie aus einem Supermarkt, die buddhistische Lehre verkommt zur Handelsware. Das batteriebetriebene Tischmodell einer Gebetsmühle mag als Symbol für diese aktuellste Erscheinungsform der Traumwelt Tibet dienen. Das von Martin Brauen zusammengetragene Material ist überwältigend und seine Darstellung und Aufbereitung faszinierend. Auch wenn dieses Tibet-Bild des Westens durchaus von tibetischen Vorstellungen und Praktiken beeinflußt ist – erinnert sei an die tradierten Wundertaten und Fertigkeiten von Padmasambhava oder Milarepa oder an tibetische Gebetsmühlen, die mit Wasser- oder Windkraft oder mittels emporsteigender heißer Luft in Bewegung gesetzt werden – so haben die westlichen Tibet-Phantasien nichts mit dem wirklichen Tibet zu tun, sondern sie erzählen allein etwas über den westlichen Menschen, über seine Sehnsüchte, Bedürfnisse, Begierden, Hoffnungen und Träume, sie dienen „zur Inszenierung des persönlichen Dramas des weißen Menschen“ (Jamyang Norbu). Nun läßt sich fragen, ob durch die Veröffentlichung dieser Absurditäten und Trivialitäten das wirkliche Tibet nicht Schaden nimmt? Bedeutet es nicht Wasser auf die Mühlen derjenigen, die, wie etwa die Chinesen, in Tibet ein mittelalterliches Höllenreich sehen? Das Gegenteil ist wohl der Fall, denn ein objektives Tibet-Bild ist Grundvoraussetzung für einen echten Dialog und Austausch mit den Tibetern. Tsering Shakya, ein moderner Tibeter, formuliert es so: „Die westliche Wahrnehmung Tibets und die akkumulierten Tibetbilder sind der politischen Sache Tibets hinderlich. Die ständige Mythologisierung Tibets hat die wahre Natur des tibetischen politischen Strebens in den Schatten gestellt und undeutlich gemacht.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. (- mb -)

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