Tibet – Land und Kultur

Autor/en: Franz Binder, Winfried Rode
Verlag: Hirmer Verlag
Erschienen: München 2000
Seiten: 264
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: DM 98.–
ISBN: 3-7774-8380-X
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Das Kapitel über die Geschichte Tibets beginnt mit einem Bild aus dem Lhasa von heute. Noch immer steht im Zentrum der Stadt der altehrwürdige Jokhang-Tempel, eines der ältesten Bauwerke Tibets, gibt es den Barkhor, den Pilgerweg, der um den Tempel herumführt und der auch heute noch geprägt wird von unzähligen Pilgern, die aus der ganzen tibetischen Welt dieses wichtigste Heiligtum des tibetischen Buddhismus besuchen. Ein idyllisches Bild – wären da nicht die chinesischen Soldaten, die sich unter die Menschenmenge mischen, die elektronischen Überwachungskameras, die jede Verschwörung schon im Entstehen entdecken sollen und die neuen Betongebäude, die nach dem Abriß historischer Altstadthäuser hochgezogen wurden. Es ist der Vorzug dieses Buches, daß es nicht nur einen nostalgischen Blick auf das alte Tibet wirft, sondern stets auch die Gegenwart im Auge behält. So findet sich auch ein Kapitel über Tibet im Exil und dazu passen die nachdenklichen Worte des Dalai Lama im Vorwort, daß es aus der Isolation des Exils heraus nur schwer gelingen kann, die tibetische Kultur, ein kostbares Welterbe, zu bewahren und zu fördern. Tibet braucht Hilfe und Unterstützung – so der Dalai Lama – und er gibt dem Buch den Wunsch mit auf den Weg, daß die Leser durch Text und Bild zu einem besseren und einfühlenden Verständnis der tibetischen Menschen und Traditionen gelangen, daß dieses bessere Verständnis weitere Bemühungen anregen wird, die Kultur Tibets vor dem endgültigen Verschwinden zu bewahren. Diesem Anspruch wird das Buch glänzend gerecht. Die Kapitel über Geschichte, Religion und die Kunst Tibets sind umfassend, kenntnisreich und objektiv und sie sind in einem leicht zu lesenden, informativen und flüssigen Stil gehalten, wie ihn nur der schreiben kann, der die Materie wirklich beherrscht. So wird auch trotz der dem Verständnis dienenden Trennung bewußt, daß Geschichte, Religion und Kunst in diesem Land eine Einheit bilden wie sonst nirgends auf der Welt. Lesenswert, weil nur selten in dieser komprimierten Form zu finden, ist der Abschnitt über die Geschichte der Erforschung Tibets und die in einem Anhang zusammengefaßten Darstellungen über den Aufbau eines tibetischen Klosters, über tibetische Medizin und über zentrale Motive des tibetischen Buddhismus, etwa das Lebensrad oder das Kalachakra-Mandala. Also trotz der reichen Illustrierung in erster Linie ein Lese- und nicht ein Bilderbuch. Doch auch diese Bilder sind eine einfühlsame Reise auf das Dach der Welt. Den historischen und aktuellen schwarz-weiß-Bildern, die den Text begleiten, folgt ein opulenter Tafelteil, der ein eindrucksvolles Bild von den Landschaften und den Menschen Tibets zeichnet, vom Kloster- und Nomadenleben, von Festen und Andachten und nicht zuletzt von den reichen Kunstschätzen, die das Land heute noch birgt. Wie lange noch, muß man fragen, und zwar aus aktuellem Anlaß. Bei der Beschreibung des Klosters Sakya, Stammkloster des Ordens der Sakyapa, einem der größten und reichsten Klöster Tibets, erwähnt der Autor die dort verwahrte einzigartige Bibliothek und die nicht minder wertvolle Porzellansammlung. Aufgrund der engen Beziehungen der Äbte des Sakyapa Ordens zur mongolischen, in China residierenden Yüan-Dynastie, war Sakya seit dem 13. Jahrhundert über Jahrhunderte ein bevorzugtes Ziel buddhistischer Pilger aus China. Sie brachten Pilgergaben, häufig Tassen oder Schalen, kleine Gefäße aus Porzellan, bemalt, blau-weiß oder ganz schlicht. Diese Gaben der Pilger an das Kloster wurden über die Jahrhunderte in der großen Versammlunghalle in Schreinen verwahrt, ein in seiner Kostbarkeit und Seltenheit einzigartiger Schatz frühen chinesischen Gebrauchsporzellans. Als der Rezensent im Herbst 1998 Sakya besuchte waren die Schreine leer. Ein Mönch erzählte, daß im Jahr zuvor ein chinesischer LKW vorgefahren war, daß das Porzellan sorgfältig in Kisten gepackt und abtransportiert wurde. Bei seinem Bericht hatte der Mönch Tränen in den Augen. Auch die Bibliothek, die den ganzen hinteren Teil der Versammlunghalle einnimmt, ist seither nicht mehr zugänglich. Der schmale Zugang ist mit Brettern vernagelt und durch Stacheldraht bewehrt. Noch scheint die kostbarste Bibliothek Tibets an Ort und Stelle. Aber wie lange noch? (- mb -)

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