Lebens- und Wirtschaftsformen von Nomaden im Osten des tibetischen Hochlandes

Autor/en: Angela Manderscheid
Verlag: Dietrich Reimer Verlag
Erschienen: Berlin 1999
Seiten: 228
Ausgabe: broschiert
Preis: DM 58.–
ISBN: 3-496-02697-9
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Wem es gelingt, die eingefahrenen touristischen Hauptrouten Tibets zu verlassen, wer in den unberührten Weiten der nördlichen Hochebene, dem Chang-Tang, untertaucht, wer die tibetischen Himalayatäler im Süden und Osten besucht oder gar den wilden Westen Tibets, der ist fasziniert von der Welt der tibetischen Nomaden, einer Welt, die seit Jahrhunderten unverändert und bis heute intakt erscheint. Während die nomadische Lebens- und Wirtschaftweise in der Türkei, in Persien oder in Zentralasien aus politischen und ökonomischen Gründen weitgehend verdrängt wurde, ziehen auf dem tibetischen Hochplateau noch immer Nomaden mit ihren Herden von Weidefläche zu Weidefläche, leben in ihren typischen, aus der Wolle der schwarzen Yaks gewebten Zelten und kleiden sich in ihre Chubas aus Schafsfell. Man glaubt sich in die Zeit versetzt, als Sven Hedin, Wilhelm Filchner oder Alexandra David-Neel ihre abenteuerlichen Reisen durch Tibet unternahmen. Doch das Bild täuscht. Auch bei den Nomaden Tibets haben tiefgreifende Umwälzungen stattgefunden. Neben manchem Nomadenzelt steht heute schon ein China-Jeep oder LKW, Kofferradios dröhnen, Kinder betteln um Kaugummi und die tibetischen Stiefel aus Filz und Yakleder wurden weitgehend durch billige Turnschuhe aus chinesischer Massenfabrikation verdrängt. Ernsthafte wissenschaftliche Untersuchungen zum Nomadismus in Tibet, seine Ursprünge, seine Voraussetzungen und seine Zukunft sind selten. Die Tibetforscher früher Jahre haben über Nomaden nur am Rande berichtet, am ehesten noch über die Abenteuer mit dem berüchtigten räuberischen Stamm der Ngo-lok. Aus neuerer Zeit gibt es alleine die mit phantastischen Fotos versehene, auch in deutscher Sprache erschienene Untersuchung der Ethnologen Goldstein/Beall, die 16 Monate bei den Nomaden des Chang-Tang lebten (Die Nomaden Westtibets, Nürnberg 1991). So ist die sozialgeographische Arbeit von Angela Manderscheid bei all ihrer wissenschaftlichen Nüchternheit ein ganz wichtiger Beitrag zur aktuellen Tibetliteratur. Allein die Tatsache, daß Angela Manderscheid die vielen Monate Feldforschung in den Jahren 1989 bis 1992 ausgerechnet bei den früher so gefürchteten Ngo-loks verbrachte, zeigt die gewaltigen Änderungen in der Lebens- und Wirtschaftsweise tibetischer Nomaden. Während es noch vor siebzig Jahren bei den Ngo-loks durchaus normal war, die benötigte Gerste für das Hauptnahrungsmittel Tsampa durch räuberische Überfälle auf Handelskarawanen zu erbeuten, gibt es heute Geldwirtschaft, Bezugsscheine und Eigenanbau. Interessant ist vor allem die Entwicklung der letzten 50 Jahre, seit also das kommunistische China die Macht in Tibet übernommen hat. Zwischen 1953 und 1956 wurde auch die Nomadenregion im Osten des tibetischen Hochlandes Stück für Stück von der Volksarmee der chinesischen kommunistischen Partei „friedlich befreit“. Die Han-Chinesen, die die mobile Tierhaltung als unkultiviertes Barbarentum ansehen, begannen mit einem Programm der Seßhaftmachung und der Einführung von Ackerbau im ehemaligen Weideland. Vor allem aber wurde auch die Tierhaltung zwangskollektiviert und jedes Privateigentum abgeschafft. Die Zeit des „Großen Sprungs“ (1958 – 1960), vor allem aber die „Große proletarische Kulturrevolution“ (1966 – 1969) brachten einschneidende Veränderungen in der Sozialstruktur. Die Produktionseinheit Familie wurde ersetzt durch Brigaden und Volkskommunen, die Abschaffung des Nomadismus und seiner materiellen Kultur war erklärtes Ziel. Das Experiment ist gründlich schiefgegangen. Katastrophale Mißernten machten deutlich, daß sich die Hochebenen Tibets ausschließlich für die Tierhaltung eignen. Die besonderen klimatischen Umstände, die auf wenige Monate beschränkte Wachstumsperiode und das magere Wachstum in großer Höhe zwingen die Tierhalter zur Mobilität und bedingen den häufigen Wechsel der Weideflächen. Nirgendwo in China ist die Kulturrevolution, die Abschaffung alter Ideen, alter Bräuche, alter Kultur und alter Sitten so gescheitert wie bei den tibetischen Nomaden. Die Familien erhielten ihre Yaks, Schafe und Ziegen zurück, bezogen wieder ihre schwarzen, schnell auf- und abbaubaren Zelte und kehrten zur nomadischen Lebens- und Wirtschaftsweise zurück. So ist das, was heute als jahrhundertealte und ungebrochene Tradition erscheint, tatsächlich ein Neuanfang, eine erneute Anpassung der nomadischen Bevölkerung Tibets an die extremen klimatischen Bedingungen, vergleichbar vielleicht mit dem, was geschah, als vor vielen vielen Jahrhunderten zentralasiatische Gruppen aus den nördlichen Steppenregionen das tibetische Hochland besiedelten und Überlebensstrategien entwickelten, die noch heute Gültigkeit haben. Freilich beschränkt sich die Untersuchung von Angela Manderscheid auf einen sehr engen, ganz im Osten des tibetischen Hochlandes liegenden Bereich, die Region um den Ort Dzam-Thang, der sich durch eine ausgeprägte Höhengliederung (2.600 – 4.500 Meter) auszeichnet und in dem schon immer Ackerbau und Tierhaltung nebeneinander, bzw. „übereinander“ betrieben wurden. Die pessimistische Aussage der Autorin, daß hier langfristig die bewährten Formen des nomadischen Lebens und Wirtschaftens verschwinden werden, dürfte im zentralen und westlichen Tibet – hoffentlich – nicht zutreffen. Hier hat, wie sonst nirgends in der Welt der Nomadismus eine wirkliche und dauerhafte Überlebenschance. (- mb -)

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