Sacred Visions – Early Paintings from Central Tibet

Autor/en: Steven M. Kossak, Jane Casey Singer
Verlag: The Metropolitan Museum of Art/Abrams
Erschienen: New York 1998
Seiten: 226
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: £ 44
ISBN: 0-8109-6527-5
Kommentar: Michael Buddeberg, November 1998

Besprechung:
Daß diese grandiose Schau – über 60 der ältesten und schönsten Bilder aus Tibet, Thangkas, durchweg in prächtiger Erhaltung – zustande kam, kann als eines der großen Ausstellungsereignisse dieses Jahrzehnts gefeiert werden. Daß sie außerdem nicht nur in New York im Metropolitan Museum zu sehen war, sondern nun auch in Zürich bewundert werden kann (Rietberg Museum, 14. Februar bis 16. Mai 1999), haben wir der Initiative des Rietberg Museums und einigen engagierten europäischen Privatsammlern zu danken. In dem zur Ausstellung bei Abrams erschienenen Kata­logbuch sind alle Bilder sowie einige bemalte Buchdeckel ganzseitig und natürlich farbig abge­bildet. Ausschnittvergrößerungen geben einen Eindruck von der Feinheit, Ausdrucksstärke und den erzählerischen Inhalten tibetischer Thangkas. Die Abbildungen können aber trotz aller Farb- und Druckqualität die Faszination und Erhabenheit, die von diesen Bildern im Original ausgeht, nicht ersetzen, ihre Ruhe und Würde nur unvollkommen vermitteln. Bilder haben im Buddhismus eine andere Funktion als im Christentum. Sie dienen nicht der Ehre Gottes oder Buddhas, sondern sind Bestandteil der Glaubenspraxis. Weit mehr noch als die Wandmalerei, die häufig nur als dekorativer Hintergrund für die davor plazierten Statuen dient, sind Thangkas für die Tibeter ein wertvolles Fenster, durch das sie eine alternative Wirklichkeit, eine erleuchtete Dimension erblicken. Thangkas sind Stützen der Meditation und aus dieser Bedeutung erst erschließt sich ihr Inhalt, ihre Aussage und ihre Schönheit. Thangkas in Reproduktion können daher immer nur zweite Wahl sein. Erste Wahl im Buch sind indes die begleitenden Texte: Robert Bruce-Gardner, Direktor des Courtauld Instituts in London, schreibt über die hochkomplizierte und im frühen Mittelalter schon hochentwickelte Maltechnik dieser Rollbilder, die es über Jahrhunderte unbeschadet überstanden haben, daß sie immer wieder, hundertmal, tausendmal, zusammengerollt wurden. Versuchen Sie das mal mit ihrem Picasso oder Spitzweg! Ein ausführlicher Essay schließlich von Steven Kossak, Kurator am Metropo­litan Museum, über die Stilentwicklung früher zentraltibetischer Malerei, beschreibt in enger Anlehnung an die abgebildeten Thangkas die vielfältigen Einflüsse, aus denen dann im 15. Jahrhundert der einzigartige, elegante, spezifisch zentraltibetische Malstil entsteht. Auf Kossak geht auch die Datierung der Thangkas zurück oder besser die Versuche, einen zeitlichen Rahmen für die Entstehung dieser Bilder zu finden, eine äußerst schwierige Aufgabe, bei der sich Kossak hin und wieder zu sehr im Detail verliert. Der Lorbeer gebührt aber zweifellos der Tibetologin Jane Casey Singer für ihren Beitrag, in dem sie die kulturellen Wurzeln dieser Kunst untersucht. Mit unglaublicher Virtuosität und nicht zu übertreffenden Kenntnissen wird hier ein Bild Tibets zur Zeit der zweiten buddhisti­schen Bekehrung, des sogenannten „Chidar“ vor uns ausgebreitet, wie es anschaulicher nicht sein könnte. Dabei wird von J.C. Singer vor allem der Ursprung aller tibetischen Malerei, die enge Verbin­dung zum buddhistischen Indien hervorgehoben. Es ist ja nicht so, wie man immer wieder liest und hört, daß die den Westen zunächst abstoßende und erschreckende, inzwischen aber immer mehr anerkannte und bewunderte Malerei mit tantrischen Inhalten – vielköpfige Götter in inniger Ver­einigung mit ihrer weiblichen Entsprechung, zornvolle Gottheiten mit Symbolen von Tod und Gewalt – eine dem tibetischen Lamaismus ureigene, von ihm erfundene Ausdrucksform ist. Auch diese Form des esoterischen Buddhismus, die Lehre des Vajrayana, erlebte in Bengalen schon um die erste Jahrtausendwende eine Hochblüte. Jane Casey Singer zeichnet ein lebendiges Bild von den großen Klosteruniversitäten Ostindiens, Nalanda und Vikramashila etwa, mit tausenden von studierenden Mönchen und mit einer großen Gemeinde tibetischer Pilger. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, daß im Indien der Pala-Zeit nicht nur steinerne sondern auch gemalte Bildwerke des diamantenen Weges hoher künstlerischer Qualität geschaffen worden sind; nichts von ihnen blieb in Indien erhalten. Die frühesten in Tibet gefundenen Thangkas aus dem 11. und 12. Jahrhundert sind das einzige auf uns überkommene Zeugnis dieser Kunst und bei vielen dieser einzigartigen Bildwer­ke werden wir nie genau wissen, ob sie nicht doch in Bengalen von spezialisierten indischen Künstlern im Auftrage tibetischer Klostergründer gemalt wurden und so nach Tibet gelangten. Von Atisha etwa weiß man, daß er so verfuhr. Spätestens zu Beginn des 13. Jahrhunderts war es mit dieser Verbindung jäh zu Ende. Muslimische Horden eroberten Bengalen, die Klosteruniversitäten sanken in Schutt und Asche, ein beispielloser Bildersturm vernichtete Kunstwerke und Bibliotheken. Zu dieser Zeit aber war der „Chidar“ in Tibet schon weitgehend abgeschlossen, die großen Klöster in Tibet (Shalu, Reting, Sakya, Drathang, Narthang, um nur die wichtigsten zu nennen) gegründet und der Bedarf nach Künstlern für Wand- und Thangkamalerei war groß. Es war dies die Zeit als zunächst die Newari-Handwerker aus dem Kathmandutal Einfluß auf tibetische Kunst und tibetisches Kunsthandwerk gewannen und später dann auch Künstler vom Hofe der Mongolen in China. Aus diesen Einflüssen entwickelte sich im Laufe von etwa vier Jahrhunderten der eigene zentralti­betische Stil, der im frühen 15. Jahrhundert in der berühmten Schule von Gyantse seinen ersten Gipfel erreichte. Mit den schönsten Thangkas aus Zentraltibet des 15. Jahrhunderts findet diese einzigartige Entwicklungsgeschichte tibetischer Malerei ihren Höhepunkt und Abschluß. Ein wichti­ges und schönes Buch zu einem bisher wenig behandelten Thema.

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