Klassische Tibetische Medizion – Illustrationen zum Blauen Beryll

Autor/en: Sangye Gyamtso, Fernand Meyer
Verlag: Verlag Paul Haupt
Erschienen: Bern Stuttgart 1996
Seiten: Text und Tafelband
Ausgabe: Leinenbände in illustrierten Schmuckschuber
Preis: DM 460.–
Kommentar: Michael Buddeberg, September 1997

Besprechung:
Die großformatige, zweibändige, sorgfältig gestaltete, gedruckte und gebundene Prachtpublikation im Schuber ist ein Gemeinschaftswerk russischer, französischer und englischer Wissenschaftler und Tibetologen. Das hier in Wort und Bild vorgestellte komplexe System medizinischer Prävention und Behandlung wird seit dem achten Jahrhundert angewandt und in Tibet, Indien, Nepal, Ladakh, in Bhutan, in der Mongolei und in Burjatien bis zum heutigen Tage unverändert praktiziert. Im Zentrum der Publikation stehen einzigartige Illustrationen, Kunstwerke und Lehrtafeln für die Ausbildung von Ärzten zugleich. Diese Serie von Bildern zur tibetischen Medizin, die zwischen 1687 und 1703 unter der Ägide des Regenten Sangye Gyatso in Lhasa entstanden ist, stellt ihres Umfangs und der Originalität ihrer Konzeption wegen ein äußerst kostbares Dokument dar, nicht nur für Tibet sondern für die Geschichte der Medizin überhaupt. Sie ist Zusammenfassung und Höhepunkt verschiedener früherer Traditionen und lebendiger Ausdruck der Genialität eines Mannes, der im Sinne des Wirkens des Fünften Dalai Lama (1617 – 1682) sich der Aufgabe verschrieben hatte, das große zivilisatorische und kulturelle System weiterzuentwickeln, das Tibet unter der Autorität dieses Großen Dalai Lamas vereinigt und das bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts Bestand hatte. Über ihren technischen Zweck hinaus wurde diese medizinische Ikonographie auch damals schon als höfisches Meisterwerk von höchster Ästhetik und als große politische Geste gefeiert. Daß dieses Werk 1992 in der englischen Ausgabe bei Serindia und nun auch in deutscher Übersetzung durch den Verlag Paul Haupt einer breiten westlichen Öffentlichkeit vorgelegt wurde, kommt nicht von ungefähr. Die rasche Entwicklung der westlichen Biomedizin, ihre zunehmende Technisierung und die lawinenartigen Kostensteigerungen begegnen mehr und mehr Bedenken und Vorbehalten und haben den Blick auf andere medizinische Ideen, auf Naturheilverfahren und auf die uralten Systeme der asiatischen Medizin gelenkt. Unter diesen, neben der indischen und der chinesischen Medizin, genießt die tibetische Medizin insofern eine Vorzugsstellung als sie von Beginn an umfangreich dokumentiert worden ist. Songtsen Gampo, Padmasambhava, Vairocana, Rinchen Zangpo, alle diese großen mit der Geschichte Tibets und des Buddhismus in Tibet eng verbundenen Männer und viele andere, die hier nicht genannt werden können, haben entweder selbst medizinische Werke verfaßt oder diese angeregt. Arzneimittel- und Rezeptbücher, Handbücher diagnostischer und therapeutischer Techniken, Arbeiten zur Geschichte der Medizin und Kommentare zu den „Vier Tantras“, dem Grundlagentext der tibetischen Medizin sind in großer Zahl schon aus den ersten Jahrhunderten dieses Jahrtausends bekannt. Auch die hier vorliegenden Illustrationen zum „Blauen Beryll“ wurzeln in diesem System der „Vier Tantras“ und finden in Umfang, Konzeption und Vielschichtigkeit in anderen asiatischen Ländern nichts ihresgleichen. Der Text mit dem ausführlichen Namen „Tantra der geheimen Anweisung über die acht Zweige, Essenz des Elixiers der Unsterblichkeit“, allgemein bekannt unter dem Kurztitel „Vier Tantras“, soll auf Buddha selbst zurückgehen. Wenn dies auch Legende sein mag, so zeigt sie doch die enge Verbindung der tibetischen Medizin mit dem Buddhismus. Grundideen der buddhistischen Lehre, etwa daß das Leiden die Natur aller irdischen Existenz ist oder die Suche und der Weg zur Vernichtung und Beendigung allen Leidens, führen zwangsläufig zur Medizin. Buddha selbst ist der erhabene Heiler, seine Lehren die endgültige Arznei für leidende Wesen, das Nirvana der einzige Zustand frei von Krankheit. Medizin ist damit integraler Bestandteil des Buddhismus. Diese tibetische Medizin ist ebenso wie ihre geistigen Grundlagen bis zum heutigen Tage lebendig geblieben. Allein während der dunklen Zeit der Kulturrevolution war ihre Ausübung offiziell verboten; heute erlebt sie eine Renaissance, wird gefördert und praktiziert. Die Schule für Medizin und Astrologie in Lhasa, das Mentsikhang, mit einem von Tibetern stark frequentierten Ambulatorium, wird Touristen mit großem Stolz gezeigt. Dort wird auch der originale Satz der Thankas verwahrt, die Sangye Gyamtso, Autor und Herausgeber des „Blauen Beryll, eines Kommentars zu den Vier Trantras, anfertigen ließ. Von diesen, Lehrzwecken dienenden Thankas wurden immer wieder Kopien gefertigt. So wurden um 1920 zur Zeit des XIII. Dalai Lama getreue Faksimiles für die Ausbildung burjatischer Ärzte im Transbaikal hergestellt. Diese 77 Thankas (von insgesamt 80) befinden sich heute im Historischen Museum von Ulan Ude und sind Grundlage der hier vorliegenden Veröffentlichung. Die großen und detailgetreu wiedergegebenen Farbtafeln wurden von Künstlern geschaffen, die auf über 10.000 Einzelbildern die vielfältigen Themen, Merkmale und Eigenschaften der tibetischen Medizin darstellten. Von instruktiven Zeichnungsserien, in denen die Diagnose und Behandlung von Krankheiten dargestellt ist, bis hin zu genauesten anatomischen Karten, präsentieren die Bilder auch eine weite Bandbreite an Substanzen – tierischer, mineralischer und pflanzlicher Herkunft -, die in der Zubereitung von Medikamenten verwendet werden, behandeln Bereiche wie Traumdeutung, Embryologie, Sexualität und verdeutlichen die Notwendigkeit einer Präventivmedizin. Die tibetischen Texte und Bildlegenden sind sorgfältig übersetzt. In Verbindung mit den einführenden Essays zur tibetischen Medizin (Fernand Meyer), zu Struktur und Inhalt der Vier Tantras und zu Sangye Gaymtsos Kommentar, der Blaue Beryll, ist die Klassische Tibetische Medizin ein intellektuelles und ästhetisches Erlebnis für jeden, der an alternativen, ganzheitlichen medizinischen Systemen interessiert ist, für Medizinhistoriker, Pharmakologen, Anthropologen, praktizierende Ärzte aber auch eine Pflichtlektüre für alle Liebhaber tibetischer Kunst und Kultur. Das Werk nimmt auch den medizinischen Laien so gefangen, daß der Hinweis des Verlages, daß die im Buch aufgeführten und erklärten medizinischen Substanzen, Verfahren und Therapien nur Fachärzten und Fachärztinnen vorbehalten und nicht zur Selbsttherapie geeignet sind, tatsächlich geraten erscheint.

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