Schamanen auf dem Dach der Welt – Trance, Heilung und Initiation in Kleintibet

Autor/en: Amelie Schenk
Verlag: ADEVA
Erschienen: Graz 1994
Seiten: 236
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: DM 98.–
ISBN: 3-201-01601-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 1997

Besprechung:
Schamanen, Orakelpriester, Wunderheiler: Ein wenig behandeltes, in der Literatur über Tibet und den tibetischen Kulturraum oft bewußt ausgeklammertes Thema. Das Schamanentum wird, wenn es überhaupt erwähnt wird, schlicht als ein Phänomen der vorbuddhistischen Naturreligionen abgetan, fortbestehend allenfalls im Volksglauben. Die Literatur über den tibetischen Buddhismus läßt damit eher ein einseitiges Bild von einem komplizierten philosophischen, auf mystischer Erfahrung gründenden Lehrgebäude für eine religiöse Elite entstehen und sie läßt die große geistige Wirkkraft der alten Traditionen im Volk, den Volksglauben als kulturtragendes Moment außer acht. Aber es gibt sie tatsächlich, die Schamanen, Heiler und Orakel, ja es ist – auch heute noch – sozusagen ein Ausbildungsberuf mit dem Ziel des niedergelassenen Schamanen, ein Beruf mit hoher sozialer Anerkennung und gutem finanziellen Auskommen. Diese „Heiler“ sind im ganzen tibetischen Kulturraum bekannt, natürlich auch in Ladakh, der „Kleintibet“ genannten Enklave tibetischer Kultur in Nordindien. Amelie Schenk, Germanistin, Romanistin und vor allem Ethnologin hat viele Jahre dem Studium der tibetisch-ladakhischen Schamanen gewidmet und legt mit diesem Buch eine faszinierende und ungemein fesselnde Arbeit vor. Die wichtigste Erkenntnis dieser auf intensiver Feldforschung beruhenden Studie ist die, daß das Schamanentum Ladakhs, damit aber wohl das Schamanentum überhaupt, sich in einem wichtigen Punkt vom Buddhismus gar nicht unterscheidet. Das große Ziel des Mahayana-Buddhismus ist das Erreichen der großen Leere, die Entleerung des Bewußtseins von allen Gedankenformen, von Raum, Zeit und Materie. Alle buddhistischen Bewußtseinstechniken sind diesem Ziel untergeordnet oder stehen in dem einen oder anderen Stadium dieses Prozesses. Aber auch der Schamane strebt im Tranceprozeß diese Leere des Bewußtseins an, hier allerdings nicht, um sich selbst zu verwirklichen sondern um einem höherem Bewußtsein Platz zu machen und diesem die Möglichkeit zu geben, Mitmenschen Rat, Hilfe und Heilung zukommen zu lassen. Das alles ist in diesem Buch nicht graue Theorie sondern lebendige Praxis. Schamanen aus Ladakh, mehr als zwei Dutzend, kommen selbst zu Wort und berichten über ihre Berufung, über Lehrzeit und Initiation, über die damit verbundene Leidenszeit und Schmerzen, über ihre soziale Stellung und vor allem über den zentralen Teil ihrer berufliche Arbeit, über die vielfältigen Techniken der Herbeiführung der Trance. Schamane in Ladakh, dieser Beruf ist vor allem denjenigen Mitgliedern der Gesellschaft vorbehalten, die sich anormal verhalten, hypersensiblen Menschen, denen es nicht gelingt, sich in die normale Gesellschaft zu integrieren. Indem sie von ihr als etwas Besonderes erkannt und zu Schamanen ausgebildet werden, wird versucht, aus ihnen wertvolle und kreative Mitglieder der Kultur zu machen. Ziel der Ausbildung ist es, den Zustand der Trance zu erreichen, einen Zustand der Leere, der es ermöglicht, daß ein anderes Bewußtsein diesen Platz einnimmt. Der Herbeiführung der Trance, dem Erreichen eines veränderten kulturellen Bewußtseinszustandes, wie Amelie Schenk es nennt, widmet sich der zentrale Teil des Buches. Das Streben nach der Leere beginnt mit eher landläufigen buddhistischen Ritualen, wie man sie auch von Pilgern oder von Mönchen kennt, dort aber eher als Hilfsmittel der Meditation. Es folgen Rituale der Transzendierung selbst, die Beweihräucherung durch glimmenden Bergwacholder und rituale Waschungen. Dann treten psychophysiologlsche Phänomene auf, Schmerzen, Gleichgewichts- und Wahrnehmungsstörungen, die den Umbau der Physiologie anzeigen und die innere Leere als Voraussetzung der nachfolgenden Besessenheit durch ein Geistwesen vorbereiten, extreme körperliche Reaktionen, Niesen, Rülpsen, Stöhnen, um nur einige zu nennen, hechelnde Atmung, extremes Zittern. Damit beginnt der Wechsel der Bewußtseinssphäre, der Verlust der Erinnerung, schließlich der Bewußtseinsverlust, womit der Tranceprozeß endet, das Geistwesen, der „Ina“, vom Medium Besitz ergriffen hat und die Seance, Heilung und Orakel, beginnt. Diese erstaunlichen Vorgänge werden von Amelie Schenk nüchtern, ohne westliche Wertung, unterstützt durch wörtliche Äußerungen der Schamanen selbst, beschrieben und vorgetragen. Bei aller „Zauberei“ wird eines klar: Das Schamanentum, Berufung, Ausbildung und Praxis, ist kein Spiel einer primitiven Kulturform sondern eine Beherrschung und Bewertung von Zuständen, die wir als Neurose, Psychose oder Psychopathie kennen. Ist es nun pathologisch oder wirklich eine Öffnung für höhere Mächte? Da wir diese doppelte Bewertung abnormer Zustände nicht kennen, ist es für den westlichen Menschen schwierig, einen verständnisvollen Zugang zum Schamanentum Ladakhs zu bekommen. Interessant aber ist es allemal.

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