Bildrollen – Dauer und Wandel einer indischen Volkskunst

Autor/en: Thomas Kaiser
Verlag: Arnoldsche Art Publishers – Völkerkundemuseum der Universität Zürich
Erschienen: Stuttgart und Zürich 2012
Seiten: 192
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 39,80
ISBN: 978-3-89790-365-4
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 2012

Besprechung:
Die Zeiten als Moritatensänger von Dorf zu Dorf zogen und auf Jahrmärkten singend ihre ergötzlichen und oft gar schrecklichen Bilderbogen erläuterten, sind längst vorbei. Auch die Guckkastenbilder mit biblischen und mythologischen Themen, mit der Darstellung von Wundern aller Art und Ansichten von Städten, die von Schaulustigen durch Blick in einen raffiniert ausgeleuchteten schwarzen Kasten betrachtet werden konnten, sind wie die Bilderbogen nur noch für teures Geld in den Mappen von Grafikhändlern zu finden. Radio, Fernsehen und Internet haben die in der guten alten Zeit zur Unterrichtung von Bürgern und Bauern unentbehrlichen grafischen Informationsträger zu nostalgischen Sammelobjekten werden lassen, so jedenfalls in Europa. Aber auch in Indien brachte das 20. Jahrhundert neue Transportmittel und neue Formen der Übertragung von Nachrichten und Unterhaltung, die schneller und aufregender waren als das Althergebrachte. Die alten Geschichten und ihre Erzähler, die fahrenden Sänger, Barden, Bildvorführer, Puppenspieler, Wandermönche und Asketen, welche durch die Dörfer Indiens wanderten und die uralte Literatur des Landes hunderte, ja tausende von Jahren mündlich weitergaben und die Kenntnis davon fest im Volk verankerten, fielen fast alle dem Fortschritt zum Opfer. Aber eben nur fast, denn in einigen Regionen Westbengalens hat sich erstaunlicherweise eine dieser alten Traditionen, das Malen erzählender Bildrollen, bis in unsere Tage erhalten. Deren Darbietung und ihr Publikum haben sich freilich verändert. Während früher in den Dörfern der gesungene Vortrag der Legenden und Geschichten von Göttern und Dämonen, von Leben und Tod und von Liebe und Freundschaft im Vordergrund stand und die von den Malersängern hierfür geschaffenen Bildrollen illustrierend hinzutraten, so sind es heute die an alter indischer Volkskunst interessierten städtischen Kreise, die als Käufer und Sammler zu neuen Schirmherren dieser Volkskunst wurden. Der Ethnologe und Bildhauer Thomas Kaiser ist einer dieser Sammler, der in fast zwei Jahrzehnten eine außergewöhnliche, vielleicht die weltweit bedeutendste Sammlung dieser Bildrollen zusammengetragen hat. Sie ist Gegenstand der Ausstellung „Rollenspiel und Bildgesang – Geschichte und Geschichten bengalischer Bildrollen“ im Völkerkundemuseum der Universität Zürich (bis zum 3. März 2013) und des dazu bei Arnoldsche Publishers erschienenen Katalogbuches. 160 dieser Bildrollen werden hier zum Teil in ihrer vollen, oft viele Meter erreichenden Länge, überwiegend aber in Bildausschnitten vorgestellt, erläutert und von einem einführenden Text begleitet. Es ist eine Kunstform, die ihre Wurzeln in einer der ältesten Literaturen und Gesangsformen hat, den großen indischen Epen Mahabharata und Ramayana aus dem zweiten bis zur Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends. Es sind Berichte und Bilder von göttlichen Intrigen und Schlachten, von Dämonen und menschlichen Helden, von Freundschaft, Liebe und Treue und, immer wieder, vom Nachtodschicksal der Seele. Die Auflistung menschlicher Sünden und die daraus folgenden, oft hochrealistisch dargestellten Bestrafungen der Seele des verstorbenen Sünders in der Hölle sind ein stets wiederkehrendes Thema, mit dem die Bilderzähler Indiens ihre Zuhörer ansprechen, fesseln und mit der Angst vor drohenden Höllenqualen zu spontaner Mildtätigkeit zu bewegen suchten, von der allein die malenden Sänger lebten. Doch mit der Änderung des Publikums vom einfachen indischen Reisbauern zum intellektuellen städtischen Sammler änderten sich auch die Themen. Die jahrhundertealte mündliche Überlieferung der uralten Epen, die einst fast ausschließlich mythischen und religiösen Inhalte machten mehr und mehr historischen und vor allem sozialkritischen Stoffen Platz. Der überbordende Verkehr in den indischen Großstädten, Aids und aktuelle Sensationsgeschichten verdrängten die traditionellen Inhalte und verwandelten die Bildrollen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer zeitgenössischen visuellen Kunstform. Geblieben ist die naive, ausdrucksstarke Bildsprache, die schon vor fast einhundert Jahren einen kleinen Kreis avantgardistischer europäischer Künstler aus den Kreisen der Fauvisten, Kubisten und Expressionisten angesprochen, begeistert und beeinflusst hat. All das wird nicht verhindern, dass wir hier die letzten Ausdrucksformen einer alten indischen Volkskunst sehen. Ohne die traditionelle Bildvorführung, die gesungenen Texte, die die Inhalte der Bilder erst erschließen und verständlich machen, werden die Bildrollen der Jadopatia und der Patua, der beiden einzigen Stämme im westlichen Bengalen, die diese Kunstform heute noch pflegen, kaum eine Überlebenschance haben. Ihr Schicksal wird das gleiche sein, das schon den europäischen Bilderbogen und Guckkastenbildern wiederfuhr. Umso wichtiger ist, dass es nun diese Dokumentation einer beeindruckenden Volkskunst gibt, ein Denkmal der aussterbenden Kunst der Patua und der Jadopatia.

Print Friendly, PDF & Email