Zwei Bücher über die Naga – ein Vergleich

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Kommentar: Michael Buddeberg, November 2008

Besprechung:
Michael Oppitz, Thomas Kaiser, Alban von Stockhausen, Marion Wettstein (Hrsg), Naga Identitäten – Zeitenwende einer Lokalkultur im Nordosten Indiens, Völkerkundemuseum der Universität Zürich – Snoeck Publishers, Zürich – Gent 2008, 464 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, € 44,30 ISBN 978-90-5349-680-0.

Peter van Ham, Jamie Saul, Expedition Naga – Diaries from the Hills in Northeast India 1921-1937, 2002-2006, Antique Collectors Club, Woodbridge Suffolk 2008, 296 Seiten und Video-CD-ROM, Leinen mit Schutzumschlag, 35.— engl. Pfund, ISBN 978-1-85149-560-3.

Es war in diesem Jahr, 2008, als ein erstaunliches Foto durch die Weltpresse ging: Eine Hubschrauberbesatzung hatte beim Überfliegen eines entlegenen Teils des Amazonasdschungels einen noch unbekannten Stamm entdeckt, Menschen die mit unserer modernen Zivilisation noch nie in Berührung gekommen waren. Erschreckt und zur Abwehr bereit, starrte die kleine Dorfgemeinschaft aus der Dschungellichtung mit ihren Laubhütten auf den drohenden, knatternden Blechvogel. Sie waren nackt. Was aus ihnen geworden ist, wurde nicht mehr berichtet. Vielleicht hat sich inzwischen ein Team von Wissenschaftlern auf den Weg gemacht, um Herkunft und Sitten dieser vielleicht letzten steinzeitlichen Kultur auf diesem Planeten zu erforschen – und ihnen die Segnungen der modernen Welt zu bringen. Die menschliche Neugier wird es kaum zulassen, dass diese Menschen in Ruhe gelassen werden. Der eine oder andere hat sich bei dieser Nachricht vielleicht an den Bestseller des österreichischen Ethnologen Christoph von Fürer-Haimendorf aus dem Jahre 1939 erinnert und mag sich gefragt haben, was inzwischen aus den „Nackten Nagas“ im Nordosten Indiens geworden ist. Zu diesem Thema sind just zwei Bücher erschienen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. In „Expedition Naga“ berichtet der deutsche Abenteurer Peter van Ham von seinen und des inzwischen verstorbenen südafrikanischen Architekten und Naga-Freundes Jamie Saul Reisen auf den Spuren der ersten britischen Dokumentatoren der Naga-Hills und ihrer sich als Kopfjäger bekriegenden Bewohner. Hunderte Fotos von Dörfern mit traditionellen Bauten, mit riesigen reisstrohgedeckten morungs, das sind Junggesellenschlafhäuser, in denen junge Männer die Erziehung fürs Leben erhalten, archaischen Schnitzereien, heiligen Steinen, traditionellen Baumtrommeln und immer wieder von kriegerischen, bewaffneten Männern im Kopfjägergewand und von ihren Ritualen und Tänzen, lassen ein Bild entstehen, der sich von den frühen Fotos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gar nicht so sehr unterscheidet. Ganz anders „Naga Identitäten“: Dieses Buch ist eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme vom längst vollzogenen Untergang einer einst einzigartigen Vielfalt lokaler Kulturen und von der schwierigen Suche der heute in Nagaland lebenden Menschen nach einer neuen Identität. Peter van Hams nostalgischer „Expeditonsbericht“ täuscht darüber hinweg, dass zu der Zeit, als Fürer-Haimendorf die Nagas besuchte, bereits die Schockwellen der britischen Kolonialherrschaft und der christlichen Mission über diese Bergstämme hinweggegangen waren. Während der von Indien 1947 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts verfügten Totalsperre der gesamten Region und des blutigen Unabhängigkeitskampfes der Naga mit der indischen Armee gingen auch die von Fürer-Haimendorf noch angetroffenen Reste einer spektakulären materiellen Kultur höchster ästhetischer Qualität endgültig verloren. Erst in den letzten Jahren und als Folge eines aus wirtschaftlichen Gründen zu begrüßenden Tourismus sind an verschiedenen Orten des Nagalandes „tourist villages“ mit traditioneller Bauweise nachempfundenen Häusern und Dorfplätzen entstanden, wo auf Wunsch und gegen Honorar alte Tänze und Rituale aufgeführt werden. Auch das neu geschaffene, jährlich stattfindende Hornbill-Festival bei Kohima, der Hauptstadt des Nagalandes, zelebriert als eine Art „kultureller Karneval“ eine gemeinsame Naga-Kultur, die in dieser Weise nie existiert hat. Mit einem Fortleben traditioneller Kunst und Kultur hat das nichts zu tun; ob es einem Bewahren im Sinne musealer Dokumentation dient, kann bezweifelt werden. „Naga Identitäten“ – eine Gemeinschaftsarbeit der Völkerkundemuseen Zürich und Wien – zeigt in verschiedenen Bild- und Objekt-Essays Fotos aus dem Alltag von gestern und heute, vor allem aber viele der in den Museumssammlungen verwahrten Gegenstände, Textilien, Skulpturen und den einzigartigen rituellen Kopfjäger-Männerschmuck. Die von „Expedition Naga“ aus einigen entlegenen Randgebieten der Naga Hills dokumentierte Folklore mag diese Sammlungen ergänzen, ein Beleg für einen Fortbestand der alten Kopfjägerkultur sind sie nicht. Der Untergang dieser Kultur und das Ende des Kopfjägerkultes, mit dem die Seelensubstanz des erbeuteten Feindes für eigene Fruchtbarkeit und Wohlergehen genutzt werden sollte, begannen bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Überfälle der Nagas auf britische Teeplantagen mörderische Strafexpeditionen provozierten. Entscheidend war aber die etwa 1870 einsetzende Missionierung durch amerikanische Baptisten, die ab Beginn des 20, Jahrhunderts zu einer massiven und wirkungsvollen Christianisierung der Nagas führte. Die Missionare verboten so ziemlich alles als „heidnisch“, was die traditionelle Kultur der Nagas ausmachte, den bedeutungsvollen Dekor der Kleidung, die Junggesellenschlafhäuser, die Verdienst- und anderen Feste, das Tanzen und das Singen von Liedern, die nicht im Kirchengesangbuch verzeichnet waren, von Kopfjagden ganz zu schweigen. Schon lange bekennen sich mindestens 90% der Nagas zum christlichen Glauben, der fast jeden Aspekt des öffentlichen Lebens bestimmt. Kirchenbauten prägen viele der heutigen Silhouetten von Naga-Dörfern und die morungs wurden längst durch christliche Bildungsstätten ersetzt. So zeigen die zwar schönen und mitunter eindrucksvollen Bilder van Hams – zu erwähnen sind immerhin Fotos vom Körperschmuck (Tatoos) alter Menschen, Skulpturen und Ornamente, die tradierte bildnerische Qualitäten erahnen lassen und modernde Schädel als letzte Relikte von längst vergessenen Kopfjagden – nur ein Zerrbild einer verlorenen Kultur. Die inhaltlich nüchternen aber durchweg glänzend geschriebenen und spannend zu lesenden Essays der 20 Wissenschaftler in „Naga Identitäten“ – unter anderem auch über die Musik, die Lieder, die Sprachen der Nagas, über das Phänomen von Menschen, die glauben, sich in Tiger verwandeln zu können und über schamanistische Heilmethoden – unterrichten umfassender und zeitgemäß über die Entwicklung und die Probleme der Menschen von heute im Grenzgebiet zwischen Indien und Burma. „Naga Identitäten“ ist eine großartige ethnologische und anthropologische Dokumentation vom Untergang einer Kultur, wie sie so oder ähnlich fast überall auf dieser Welt geschehen ist, ein Dokument über den Verlust der Tradition durch Kolonialisierung, Missionierung und Anpassung an eine globale Lebensweise. Was wir hier lesen wird den eben entdeckten „Wilden“ in den Dschungeln des Amazones nicht erspart bleiben.

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