Schmuck aus dem Orient – Kostbarkeiten der Sammlung Bir

Autor/en: Wolf-Dieter Seiwert
Verlag: Arnoldsche Art Publishers
Erschienen: Stuttgart 2009
Seiten: 320
Ausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
Preis: € 49,80
ISBN: 978-3-89790-318-0 (einlish edition: 978-3-89790-319-7)
Kommentar: Michael Buddeberg, Januar 2010

Besprechung:
Im Neolithikum, so etwa im 5. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, entdeckte der Mensch die Gewinnung und Verarbeitung von Silber. Ein Edelmetall, schön anzusehen, aber zu weich, um einer Epoche der Menschheitsgeschichte einen Namen zu geben, wie später die waffentauglichen Metalle Bronze und Eisen. Doch für die Geschichte des Schmucks war die Entdeckung des Silbers ein Glücksfall und ist es bis heute geblieben. Weit mehr als das etwa zeitgleich entdeckte Gold, das stets den Reichen und Mächtigen vorbehalten war, war Silber immer das wichtigste Material für die Herstellung von Schmuck. Kein Wunder also, dass die wohl weltweit bedeutendste private Sammlung von Volksschmuck aus dem Orient fast ausschließlich aus Silberschmuck besteht, wobei Holz, Bein, Leder und Textilien neben buntem Glas und Steinen nur dekorative Zutat sind. Über 40 Jahre lang, von 1960 bis 2001 hat der deutsch-türkische Arzt Ümit Bir den Orient bereist und über 3000 Teile Volksschmuck zu einer einzigartigen Sammlung zusammengetragen. Der schillernde Begriff Orient ist hier in seinem weitesten Sinne zu verstehen und reicht vom europäischen Balkan und den an den Atlantik grenzenden Ländern des Maghreb bis nach Südostindien, Zentralasien und in den Westen Chinas. Gewohnt durch seine ärztliche Patientenkartei hat Dr. Bir zu jedem erworbenen Stück akribisch Bezeichnung, Material, Maße, Zeitpunkt und Ort des Erwerbs, eine genaue Beschreibung und weitere Hinweise aus seiner ethnographischen Fachliteratur notiert und schließlich zu einer computergestützten Dokumentation verarbeitet. Ein Glücksfall für das Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig, wo die Sammlung seit dem Jahre 2004 ihre Heimat gefunden hat. Ein Glücksfall auch, dass dem Grassi Museum mit dem Orientalisten und Ethnologen Wolf-Dieter Seiwert ein Fachmann zur Seite steht, dessen profundes Wissen es ermöglicht, aus all den Einzelinformationen Zusammenhänge zu entwickeln und eine Stilgeschichte des orientalischen Volkschmuckes vorzulegen, wie es sie bisher nicht gab. Ein Glücksfall schließlich auch, dass mit Arnoldsche Art Publishers ein Verlag gefunden wurde, der diesem wichtigen Buch nicht nur die ansprechende Gestaltung gegeben hat, sondern mit einer parallelen englischen Ausgabe auch für seine internationale Verbreitung sorgt. In zehn Kapiteln, jedes garniert mit reichem Wissen über die Herstellung, die Verwendung und den Handel mit Schmuck und mit Mythen und Legenden über seine Bedeutung und Funktion kann der Leser mit diesem Buch eine imaginäre Reise durch dutzende europäischer, afrikanischer und asiatischer Länder antreten. Die Reise beginnt im europäischen Orient, in Bulgarien, Albanien, Thrakien und in Griechenland und führt über die Türkei in die Länder der Levante. Da dort der Siegeszug der Zigarette begann war mit der längst vergessenen Zigarettenspitze ein männlicher Schmuck gebräuchlich. Ein Streifzug durch Nordafrika und die Länder des Maghreb mit ihrer reichen Silberschmucktradition schließt sich an. Wegen ihres Vorkommens im westlichen Mittelmeer erfahren wir hier über die vielfältige Heil- und Schutzfunktion der tiefroten Edel- oder Blutkoralle, die dank ihrer Symbolkraft auch in Gebiete gelangte, die von ihrer ursprünglichen Heimat weit entfernt waren, wie etwa Zentralasien und Tibet. Ein Abstecher über den Hohen Atlas in die südlichen Regionen Marokkos und Tunesiens ist vor allem den jüdischen Silberschmieden gewidmet, die in der multiethnischen Gesellschaft dieser Oasenstädte stets eine Sonderstellung inne hatten und einen legendären Ruf als begnadete Handwerker. Weiter noch im Süden sind die prägnanten Schmuckformen der Tuareg und anderer Saharastämme Anlass, die im Schmuck immer wiederkehrenden geometrischen Grundformen wie Sonne, Mond, Raute und vor allem die verschiedenen und in allen Religionen gebräuchlichen Ausformungen des Kreuzes zu erörtern. Von Äthiopien, eine Fundgrube für unterschiedlichste Kreuzformen geht die Reise in den schmuckreichen Jemen, um schließlich auch Indien und Sri Lanka zu erreichen, wo die Amulettfunktion von Schmuck im Vordergrund steht. Nach Indonesien und Thailand, dem südöstlichsten Teil dieser Reise, werden die reichen Schmucktraditionen auf dem Dach der Welt in Ladakh, Tibet und Nepal nur kurz gestreift, bevor mit Afghanistan und Pakistan wieder islamisches Territorium und damit erneut der Orient betreten wird. Der Schmuck der Paschtunen ist hier besonders reich vertreten. Das achte Kapitel ist dem Schmuck der Völker an der Seidenstrasse gewidmet, den Kasachen, Tadschiken und Usbeken. Russischer Einfluss, sichtbar etwa am Niellodekor von Gürteln und die vielfache Verwendung des orientalischen Boteh als eines Symbols für die Metamorphose zeigen, wie auf diesem alten Handelsweg Motive und Traditionen aus vielen Ländern zusammentreffen und Neues entsteht. Der Schmuck der Turkmenen, der Jomud, Ersari und Tekke schließlich ist ein Lehrstück dafür, wie durch Schmuck Stammeszugehörigkeit, Funktion und sozialer Status des Trägers oder der Trägerin zum Ausdruck gebracht wird. Mit dem Schmuck der Kaukasusvölker, der Armenier und Georgier und Schmucktraditionen der Kurden und Palästinenser gelangt der Schmuckreisende schließlich zurück an seinen Ausgangsort. Mehr als 700 sorgfältig abgebildete Schmuckstücke, vom Kopfschmuck bis zur Fußspange, haben diese Reise begleitet und die Schönheit und den Reichtum orientalischen Silberschmucks offenbart ebenso wie seine magische Funktion vor Unheil zu schützen und den Segen anzuziehen. Das Buch ist zugleich ein eindrucksvoller Beleg für die unendliche Vielfalt an Formen, Verarbeitungs- und Dekortechniken, die das Material Silber erst möglich macht. Und als Kuriosum sei schließlich noch vermerkt, dass das Ausgangsmaterial eines wohl großen Teils der Schmuckstücke der legendäre Maria Theresia Taler war, der im gesamten Orient wegen seines garantierten Silbergehaltes nicht nur bis weit ins 20. Jahrhundert als offizielles Zahlungsmittel, sondern auch als Rohmaterial für die Schmuckherstellung begehrt war. Knapp 400 Millionen Stück dieser berühmtesten Münze der Welt sollen seit 1741 bis in die jüngste Zeit geprägt worden sein.

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