Autor/en: Martin Bachmann, M. Baha Tanman (Hrsg)
Verlag: Istanbul-Forschungszentrum
Erschienen: Istanbul 2008
Seiten: 326
Ausgabe: Klappenbroschur
Preis: € 25.–
ISBN: 978-975-9123-55-0
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 2009
Besprechung:
Wie keiner zuvor hat der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk dem Istanbuler Holzhaus ein literarisches Denkmal gesetzt, sowohl dem Konak, dem Stadthaus Istanbuler Bürgerfamilien, ebenso wie den einfachen Holzbauten in der winkeligen Altstadt und auch den malerisch am Ufer des Bosporus gelagerten Yalis, den palastartigen Sommerresidenzen reicher und einflussreicher osmanischer Adeliger, Beamter und Kaufleute. Nicht von ungefähr verbringt der von seiner Geliebten Füsun verlassene Kemal in Pamuks jüngstem Roman „Museum der Unschuld“ spätherbstliche Tage in einer Villa am Bosporus. Der Verfall einer einstmals glanzvollen Welt, das leise Plätschern der Wellen an der Kaimauer und die täglich sinkenden Temperaturen in dem unbeheizbaren Yali passen so recht zur melancholischen Stimmung des Romanhelden. Vor allem aber ist es Pamuks Erinnerungband „Istanbul“, der dem alten Istanbul ein einzigartiges Denkmal setzt. Die Streifzüge des heranwachsenden Orhan Pamuk durch alle Teile Istanbuls, illustriert mit Dutzenden Bildern von Holzhäusern in einfachen Wohnquartieren ebenso wie in vornehmen Vierteln oder an den Gestaden des Bosporus und der Prinzeninseln lassen ein lebendiges Bild dieser Stadt entstehen, das der heutige Besucher vergebens sucht. Dieser literarischen Hommage wurde nun vom Deutschen Archäologischen Institut eine wissenschaftliche Untersuchung und Bestandsaufnahme zur Seite gestellt, die nicht nur für Architekten, Historiker und Städtebauer, sondern für jeden Liebhaber dieser Stadt einen wahren Leckerbissen darstellt. Istanbul war, sieht man von den Repräsentationsbauten und den meisten Moscheen einmal ab, bis zum Ende des 19.Jahrhunderts eine Stadt aus Holz. Ein dramatischer städtebaulicher Veränderungsprozess im 20. Jahrhundert und eine Geringschätzung des architektonischen osmanischen Erbes haben diese alte Topographie fast vollständig untergehen lassen. Allein auf der Altstadthalbinsel um die Große Moschee Süleymaniye und im angrenzenden kleinbürgerlichen Stadtviertel bei der Pantokrator-Kirche, in Zeyrek, ist das traditionelle Istanbuler Holzhaus noch vereinzelt anzutreffen. Genau dort hat bereits 1977 eine Forschungsarbeit des Deutschen Archäologischen Instituts begonnen, deren Frucht dieses Buch und eine Ausstellung im Istanbuler Forschungszentrum der Suni und Inan Kirac Stiftung ist. Exakte Baudokumentationen, Fotos, Zeichnungen und Grundrisse, alle 1977 bis 1979 entstanden, vermitteln einen Eindruck traditioneller osmanischer Bau- und Wohnkultur, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert vorherrschend war. Bedauerlich, dass in den dreißig seither vergangenen Jahren ein Großteil der damals dokumentierten Gebäude abgerissen wurde. Ab 2005 wurde die Forschungsarbeit fortgesetzt. Gegenstand der Untersuchung waren nun die wenigen erhaltenen und über ganz Istanbul verstreuten Wohn- und Repräsentationsbauten besser gestellter Bürger aus der zweiten Hälfte des 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Sie zeigen einen erstaunlichen Wandel der Architektur. Der im 19. Jahrhundert immer stärker werdende westliche Einfluss, der zunehmende Wohlstand und die Weltoffenheit der kosmopolitischen Gesellschaft des späten osmanischen Reiches leiten eine bemerkenswerte architektonische Entwicklung ein. Die architektonische Freiheit in einem Land, in dem zuvor keine architektonische Bautradition vorherrschte, war grenzenlos, und jedem türkischen und den vielen ausländischen Bauherren, die am blühenden Wirtschaftsleben Istanbuls teil hatten, stand es frei, nach eigenen Vorstellungen Bauvorhaben in Auftrag zu geben und durchzuführen. Dies, der in Mode gekommene Orientalismus und die aus dem Westen übernommenen historistischen Impulse schufen in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Istanbul eine einzigartige Architekturströmung – und das ganz in Holz. Ein wenig Queen Victoria, der Schweizerhaus-Stil, Carpenter´s Gothic, erste Vorboten des Jugendstils und immer wieder Anleihen am britischen Cottage Style formten mit überkommenen osmanischen Elementen eine erstaunliche Mixtur. In der Türkei bisher nicht bekannte Türmchen und Balkone im Verbund mit traditionellen osmanischen Raumprogrammen und baulichen Details wie dem Divanhane, Erkern, Konsolen und Vordächern, verbrämt mit Holzdekorationen unter Verwendung von Stilelementen des Barock, Empire und Klassizismus ergaben einen Architekturstil, für den ein Name erst noch gefunden werden muss. Ein typisches Beispiel ist die bestens erhaltene historische Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya, errichtet in den Jahren nach 1885 unter der architektonischen Mitwirkung von Wilhelm Dörpfeld, dem Ausgräber von Olympia und Pergamon. Historische Aufnahmen aus dem Jahr 1890, die Wiedergabe der Geschichte dieses Holzhausensembles, Erkenntnisse aus der Restaurierung im Jahre 2001 und der teilweise Abdruck des historischen Bauberichts des damaligen Bauleiters und Architekten Armin Wegner sollen hier beispielhaft für die Sorgfalt und Gründlichkeit stehen, mit der die Häuser in dem Buch dokumentiert werden. Höhepunkt der Publikation aber ist zweifellos die Dokumentation der in den Jahren 2007 und 2008 durchgeführten Bauaufnahme des berühmtesten und ältesten Holzhauses in Istanbul, einer Inkunabel der osmanischen Architektur aus dem späten 17. Jahrhundert, dem Divanhane Amcazade Yalisi in Anadolu Hisari am asiatischen Ufer des Bosporus. Die schlichte, fast modern, jedenfalls zeitlos anmutende Holzarchitektur dieses über das Wasser des Bosporus auskragenden Yali einer einflussreichen osmanischen Familie führt zurück zu den hölzernen Wohnbauten der Istanbuler Altstadt, die sich, ebenso wie der Amcazade Yalisi, durch die ästhetische Harmonie von Material und Proportion ohne die verspielten Zutaten späterer Epochen auszeichnen. Welcher Architektur nun der Vorzug zu geben ist, der traditionellen osmanischen, oder dem attraktiven Stilmix á la Istanbul des ausgehenden 19. Jahrhunderts – das muss jeder Leser des Buches für sich entscheiden. Material jedenfalls für diese Entscheidung findet sich in diesem schönen Buch in Hülle und Fülle und es bleibt allein die – Kalkulation und Finanzierung einer solchen Publikation natürlich nicht berücksichtigende – Kritik, dass die Fotos gerne ein wenig größer hätten ausfallen dürfen. (Alle Texte vollständig in türkischer, deutscher und englischer Sprache).