Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika

Autor/en: Eugen Wirth
Verlag: Verlag Ph.v.Zabern
Erschienen: Mainz 2000
Seiten: 2 Bände: Textband, XXIV, 584 Seiten, Tafelband, VIII, 168 Tafeln
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: Bd.I+II DM 185,–
ISBN: 3-8053-2707-9
Kommentar: Michael Buddeberg

Besprechung:
Die orientalische Stadt hinterläßt beim westlichen Besucher ein vielfältiges Bild an Erinnerungen: ockerfarbene, scherbenübersähte Hügel von Tells, verfallende Stadtmauern mit Wehrtürmen und Bastionen, Tempeltürme und Lehmziegelarchitektur, oder aber auch die labyrinthischen Gänge überdachter Basare, zerlumpte, ausgemergelte Bettler, verschleierte Frauen, die Gerüche fremdländischer Spezereien, den Gebetsruf aus dem Lautsprecher der Minarette oder motorisierte Dreiradlieferwagen, die sich durch das Menschengewimmel enger Gassen den Weg zum Hof einer Karawanserei bahnen. Trotz moderner westlicher Bauten in den Außenbezirken überwiegt der Eindruck des Bizarren, Fremdartigen, Regellosen und verwirrend Bunten. In dem sich immer wieder neu verzweigenden Labyrinth von Basargassen würde man sich wohl auch dann nur schwer zurechtfinden, wenn man nicht in eine träge vorwärtsdrängende Masse eingekeilt wäre und im allgemeinen Strom mitschwimmen müßte. Flieht man dann aus dem chaotisch erscheinenden Gewirr und Gewühle der traditionellen Geschäftsbezirke in die viel ruhigeren, oft menschenleeren Wohnviertel der Altstadt, dann umgeben einen allseits abweisende, fensterlose Mauern und verschlossene Türen, und man gerät immer wieder in Sackgassen, die zur Umkehr und zum Suchen eines neuen Weges nötigen. Der Eindruck von Chaos täuscht. Die orientalische Stadt ist wie ihre Schwestern im Westen oder im fernen Osten ein durch rationale und vernünftige Entscheidungen entwickeltes und gestaltetes Gebilde, ein von Menschen für ihre jeweiligen Bedürfnisse geschaffener Handlungsrahmen, das Ergebnis zielgerichteten Planens und Bauens. Am Beispiel des Basars, des „Suq“, dem vielleicht eindrucksvollsten Charakteristikum der orientalisch-islamischen Stadt wird dies deutlich: Seit dem späten Mittelalter heben sich die Städte des islamischen Orients vor allem durch ihren Basar von den Städten aller anderen geschichtlichen Perioden und Kulturkreise ab. Der regelmäßig im Stadtzentrum gelegene Komplex spezialisierter Basarbauten bildet ein vielschichtiges, vernetztes System ökonomischer und sozialer Funktionen. Diese Suqs sind nicht nur ein architektonisch großartiger, vielgliedriger Baukomplex, sondern auch ein räumlich klar strukturierter, funktional mannigfaltig verflochtener zentraler Stadtbezirk. Die strenge räumliche Sortierung von Branchen, der fehlende Freizeitwert des Basars – er ist am Abend menschenleer und wird verschlossen -, die strikte Trennung von Wohnen und Wirtschaften, die Überdachung oder Überwölbung der Suqs, sind Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung. Vergleichbare multifunktionale Gebäudesysteme mit überdachten, klimageschützten Ladenstraßen, die im Verbund mit Geschäfts- und Bürogebäuden liegen, gibt es in Europa und Nordamerika eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So gesehen hat der islamische Orient gegenüber dem christlichen Abendland also einen Vorsprung von fast einem halben Jahrtausend. Nicht von ungefähr widmet Eugen Wirth, emeritierter Geograph am Erlanger Institut für Geographie, der städtischen Wirtschaft der orientalischen Stadt, insbesondere dem Basar, breiten Raum. Städtisches Leben, vor allem städtisches Wirtschaften und die städtische Organisationsform des Zusammenlebens von Menschen sind unabdingbare Voraussetzungen für alle höheren Zivilisationen. Die Stadt gehört zum Begriff der von Menschen geschaffenen materiellen Kultur und die Stadt als hoch organisierte Siedlungs- und Lebensform ist im Orient entstanden, in der sumerischen Frühzeit vor mehr als 5000 Jahren. Das großartige zweibändige Werk ist das Ergebnis 50-jähriger wissenschaftlicher Forschungs- und Feldarbeit, die Bilanz eines reichen Forscherlebens, das ganz der orientalischen Stadt gewidmet war. Die Monographie wird allen Aspekten dieses faszinierenden Themas gerecht und wir lesen nicht nur über die städtische Wirtschaft und den Basar, sondern erfahren alles über die wichtigsten Gebäudetypen der orientalischen Stadt, über Paläste, Moscheen und Medresen, lesen über Organisation und Gestaltung der städtischen Wohnviertel, über Sackgassen, Innenhöfe und Judenviertel, über Plätze, Gärten und Friedhöfe und vieles andere mehr. Wir lesen über Unterschiede und Besonderheiten von Haupt- und Residenzstädten, von Pilger- und Wallfahrtsstädten, von Oasen, Gewerbe- und Hafenstädten und machen eine Reise vom Maghreb durch den osmanisch-safawidischen Kernraum bis nach Südarabien, Afghanistan und Mittelasien. Ein zentrales Kapitel ist der These der Privatheit als prägende Dominante städtischen Lebens im Orient und der Antithese der abendländischen Stadt als Hochburg der Öffentlichkeit gewidmet. Am Ende weicht der Eindruck des Bizarren, des Regellosen und des Chaotischen einem neuen Verständnis der orientalischen Stadt, ja der Stadt schlechthin. Wesentlichen Anteil daran hat das reiche Abbildungsmaterial, nicht nur des Tafelbandes mit historischen und neuen Stadtplänen, mit alten Stichen und neuen Fotografien, sondern auch die in die Hunderte gehendenen Skizzen, Pläne und Karten im Textband, Grundrisse vor allem aber auch Zeichnungen, Graphiken und Tabellen. Die Kunst der Architektur ist damit auch ein wichtiges Anliegen dieser Monographie. Sie öffnet die Augen dafür, wie reich der Orient an großartigen Beispielen städtebaulicher Gestaltung und an Einzelbeispielen hohen künstlerischen Ranges ist. Bibliographie, Glossar und Indices runden ein wissenschaftliches Werk, das besser als eine ganze Bibliothek von Reiseführern konkrete Kenntnisse von Gestaltung und Funktion sowie vom lebendigen Leben in der orientalisch-islamischen Stadt vermittelt. (- mb -)

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