Autor/en: Jean-Marc Castéra
Verlag: ACR Édition (Vertrieb in Deutschland: Hirmer Verlag München)
Erschienen: Courbevoie (Paris) 1999
Seiten: 480
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: DM 240.–
ISBN: 2-86770-124-4
Kommentar: Michael Buddeberg
Besprechung:
„Eine Welt der Sterne“ – so lautet die Überschrift über dem Hauptteil dieses erstaunlichen Buches, das eine Lücke schließt. Noch nie ist das dekorative Element der islamischen Architektur Marokkos so detailliert und kenntnisreich und mit soviel Liebe, aber auch wissenschaftlicher Akribie und weiterführender Phantasie beschrieben worden wie von Jean-Marc Castéra. Eine Welt der Sterne, die in ihrer Vielfalt, in ihrem unendlichen Formenreichtum aber auch ihrer strengen Ordnung und Gesetzmäßigkeit an eine andere Sternenwelt denken läßt, den Kosmos. Jeder, der Marokko kennt, der sich von der Architektur seiner Moscheen, Medresen und Paläste hat verzaubern lassen, stand schon vor einer Tür, einem Brunnen, einer Mosaikwand oder einer Wandvertäfelung und hat versucht, die Struktur der geometrischen Dekoration zu enträtseln, in deren Zentrum immer ein Stern steht. Dieses Buch, sein didaktischer Weg, die vielen Skizzen, Zeichnungen und Computergraphiken, die Erklärung der geometrischen Grundlagen, vom einfachen achtstrahligen Stern bis zu seinem hochkomplizierten Bruder mit 96 Strahlen, ist ein Schlüssel zum Verständnis einer typisch islamischen Kunstform, die nirgendwo eine solche Bedeutung und Reife erlangt hat wie in Marokko. Die oktogonale Familie, Sterne mit 8 Strahlen und einem Vielfachen davon, ist am häufigsten anzutreffen, aber auch die hexagonalen (6-, 12- usw-strahlige Sterne) oder die pentagonalen Sternfamilien sind Grundlage komplizierter und faszinierender Muster. Die ganze Wissenschaft aber verblaßt neben den bezaubernden Beispielen aus dem Lande selbst, die überreich den Text begleiten – es dürften an die tausend Zeichnungen, Computersimulationen, Konstruktionsskizzen, vor allem aber Fotos aus Marokko sein, die das Buch illustrieren. Ob als Mosaik, der berühmten Zellij-Technik, oder in Stuck, aus Holz oder Metall oder gemalt auf Decken und Wände, kein Muster scheint sich zu wiederholen und man kann mit dem Autor mitfühlen, daß die Beschäftigung mit dieser Musterwelt zu einer Art optischer Sucht werden kann. Das Buch ist ein Wiedersehen mit den bedeutendsten Zeugnissen islamischer Architektur in Marokko, den Medresen in Marrakesch und Salé, den Grabmälern der Saaditen, dem Bahia Palast, dem Moulay Ismail Mausoleum in Meknes und vielen anderen mehr. Es gewährt aber auch Zugang zu den vielen Moscheen, die im heutigen Marokko dem Touristen in aller Regel nicht zugänglich sind. Und es gewährt Blicke in eine noch sehr viel verschlossenere Welt, in die königlichen Paläste in Marrakesch, Fés, Meknes, Rabat und Casablanca, deren Dekoration in Reichtum und Vielfalt, in Pracht und in handwerklicher und künstlerischer Perfektion alles andere in den Schatten stellt. Die Welt der Sterne, der geometrische Dekorationsstil ist aber nur eines der zweidimensionalen Musterprinzipien der islamischen Architektur. Die anderen sind Kalligraphie und florale Muster und in beiden sind die anonymen marokkanischen Handwerker und Künstler ebenfalls Meister ihres Faches. Ob es sich nun um kursive Schriften, die sogenannten „naskhi“ handelt oder um die mehr geometrischen Kufi-Schriften, auch hier entfaltet sich ein Kaleidospok der Phantasie und man vermag kaum zu glauben, daß all diese Variationen letztlich Spielarten ein- und derselben Schrift sind. Schrift ist hier nicht mehr nur Mitteilung sondern selbständige ästhetische Kunstform, monumentaler architektonischer Ausdruck einer spezifisch islamischen Kunst. Ähnliches gilt für die floralen Muster, mit denen entweder die Kalligraphie unterlegt ist oder die, meist in Form unendlicher Rapporte, Flächen bedecken, Säulenkapitelle überziehen oder Kartuschen, Zwickel und Mihrabs füllen. Sie sind eine Domäne der Stuck-Technik doch auch herausragende Beispiele in Mosaik, Holz und Stein gewähren einen tiefen und faszinierenden Einblick in diese zweidimensionale Kunst. Ein weiterer Haupteil des Buches widmet sich der dreidimensionalen Dekoration islamischer Architektur, den „muqarnas“. Muqarnas ist die Transkription eines arabischen Wortes, das üblicherweise mit „Stalaktiten“ übersetzt wird. Es sind dreidimensionale Strukturen, aufgebaut aus einfachen Formen mit konkaven Flächen und zusammengesetzt zu komplexen Gebilden, die sich, immer hoch oben, in Eckzwickeln von gewölbten Räumen finden, zur Dekoration von Nischen, Bögen, Friesen, und Kapitellen und – am spektakulärsten – an allen Arten von Kuppeln. Muqarnas sind eines der dominantesten Dekorationsmotive in der islamischen Architektur und sie haben kein Gegenstück in irgendeiner anderen Kultur. Man findet sie in der gesamten Islamischen Welt, von Cordoba bis Kabul, in Bagdad, Buchara und Kairo und natürlich auch in Marokko. Castéra gibt einen Überblick über die regionalen Unterschiede der Muqarnas und widmet sich vor allem der nicht leicht zu erkennenden geometrischen Struktur. Und, kein Wunder, die Muqarnas erweisen sich als die dreidimensionale Umsetzung der Welt der Sterne mit all ihrer Vielfalt, ihrem Variationsreichtum und den ständig neuen Entdeckungen. Und wieder beginnt eine optische Reise in eine nun dreidimensionale Welt immer neuer Formen. Bleibt nur noch zu erwähnen, daß Castéra in einführenden Kapiteln die notwendigen Grundlagen der islamischen Religion aufzeigt, das komplexe Bilderverbot etwa, das an der Ausbildung dieser Dekorationsformen wohl einen wesentlichen Anteil hat, ebenso wie die Wurzeln und die Entwicklung der islamischen Architektur. So spannt sich ein Bogen vom ehrwürdigen Felsendom in Jerusalem bis zur monumentalen Hassan II Moschee in Casablanca, die bei aller Kritik, die sie gefunden hat, doch eines ist: Ein erstaunliches Zeugnis für die Lebendigkeit und den hohen Standard dekorativer Kunst in der heutigen Architektur Marokkos. Ein großartiges Buch. (- mb -)