Changing Views – 100 Jahre nach der Ausstellung muhammedanischer Kunst in München

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Kommentar: Michael Buddeberg, Dezember 2010

Besprechung:
Helga Rebhan (Hrsg), Die Wunder der Schöpfung – Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek aus dem islamischen Kulturkreis, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2010, 240 Seiten, broschiert, € 39.80, ISBN 978-3-88008-005-8

Chris Dercon, León Krempel, Avinoam Shalem (Hrsg), The Future of Tradition – The Tradition of Future, Prestel Verlag, München 2010, 128 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, € 39.95, ISBN 978-3-7913-5085-1

Ausstellungen gehören zu den vergänglichen Medien. Nach Monaten oder bei Wanderausstellungen bestenfalls nach wenigen Jahren schließen sie ihre Pforten und die gezeigten Objekte kehren zurück in Museen, Depots und private Sammlungen. Allein die Kataloge sind es dann, die einer Ausstellung und den Ideen ihrer Kuratoren und Gestalter auf Dauer Bestand und Wirkung geben können. Doch der sorgfältig bearbeitete wissenschaftliche Katalog, in dem neben den Abbildungen und Beschreibungen der Exponate Essays namhafter Autoren das Thema der Ausstellung aufgreifen, variieren und vertiefen, hat sich erst im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts auf breiter Ebene durchgesetzt. Auch hier jedoch bestätigen Ausnahmen diese Regel. Die Bedeutung und Wirkung der Ausstellung von Meisterwerken muhammedanischer Kunst in München 1910 wäre ohne den, allerdings erst zwei Jahre nach dem Ende der Ausstellung erschienenen Katalog – ein dreibändiges Prachtwerk im Imperialfolio-Format – gewiss nicht so nachhaltig. Die Einbeziehung der islamischen Kunst in die moderne Kunstwissenschaft, der neue Blick auf islamische Objekte außerhalb ihres orientalischen Kontextes und ihre Wahrnehmung als Meisterwerke, kurz die Wirkungsgeschichte jener legendären Ausstellung ist auch ein Verdienst des Kataloges, der die Objekte erstmals ohne jedes Beiwerk in kühler Objektivität als Meisterwerke der Kunst vorstellte.

Von der Fülle von Veranstaltungen, mit denen München unter dem Titel „Changing Views“ im Herbst 2010 das hundertjährige Jubiläum der Schau von 1910 feiert, sind drei Ausstellungen und deren begleitende Kataloge besonders hervorzuheben. Im Völkerkundemuseum wird mit der Ausstellung „Die Aura des Alif“ die Kalligraphie als Königin islamischer Künste zelebriert und mit dem Katalog deren Bedeutung in der islamischen Welt von ihren Anfängen bis heute, von Spanien bis nach Indonesien und von Zentralasien bis Indien dokumentiert (Katalogbesprechung: September). Die Bayerische Staatsbibliothek, damals noch Königliche Hof- und Staatsbibliothek, hat bereits 1910 im Fürstensaal, begleitend zur Ausstellung auf der Theresienhöhe 252 islamische Handschriften gezeigt und präsentiert nun am selben Ort erneut die 43 schönsten und wichtigsten Exponate von damals und darüber hinaus 39 Neuerwerbungen aus den hundert seither vergangenen Jahren. Der Katalog, ebenso wie die Ausstellung mit „Wunder der Schöpfung“ nach einer berühmten, frühen islamischen Kosmographie betitelt, ist für die Leiterin der Orient- und Ostasienabteilung, Helga Rebhan, ein willkommener Anlass, in dem einleitenden Beitrag die eindrucksvolle Geschichte der mittlerweile 17.000 orientalischen und asiatischen Handschriften der Sammlung darzustellen. Diese Erfolgsgeschichte beginnt 1558 zeitgleich mit der Gründung der Bibliothek durch Herzog Albrecht V mit dem Ankauf der Bibliothek des Diplomaten und Orientalisten Johann Albrecht Widmannstetter (1506-1557), einer herausragenden Gelehrtenbibliothek der Renaissance mit der für die damalige Zeit geradezu unglaublichen Anzahl von 200 orientalischen Handschriften. Der bedeutendste Zugang war dann exakt 300 Jahre später der Erwerb der etwa 50.000 Bände umfassenden, berühmten Bücher- und Handschriftensammlung des französischen Orientalisten Étienne Marc Quatremère (1782-1857), deren Abwanderung aus Frankreich damals in Paris mit großer Empörung aufgenommen wurde. Mit zahlreichen Koranhandschriften, kalligraphischen Blättern, bemerkenswerten Einbänden, illustrierter Literatur wie etwa der Fabelsammlung Kalila wa-Dimna und gleich mehreren Ausgaben von Firdawsis Shanama, dem Buch der Könige, jeweils reich illuminiert und mit Miniaturen versehen, wird hier ein Schatz islamischer Buchkunst ausgebreitet, wie er so schnell nicht wieder zu sehen sein wird. Und es zeigt sich, dass – vielleicht mit Ausnahme des auf goldgrundiertem Papier geschriebenem Koran aus dem 11. Jahrhundert, ein 1967 bei Breslauer erworbenes Unikat – die bedeutendsten und schönsten Handschriften der Sammlung bereits mit den Bibliotheken Widmanstetter und Quatremère erworben wurden.

Hatten das Völkerkundemuseum und die Staatsbibliothek mit ihrer jeweiligen thematischen Begrenzung relativ einfache Aufgaben, so war mit Spannung erwartet worden, wie sich die Kuratoren im Münchner Haus der Kunst der Herausforderung des zentralen Jubiläums „100 Jahre nach der Ausstellung Meisterwerke muhammedanischer Kunst in München“ stellen würden. Sie wurde mit der Ausstellung und mehr noch mit dem Katalog mit Bravour gelöst. Zwar sind die 30 Ikonen islamischer Kunst, die auch schon 1910 zu sehen waren – Metall, Elfenbein, Holz, Glas, Keramik, Miniatur, Textilien und Teppiche, durchweg von exemplarischer Bedeutung und Qualität – der Mittelpunkt der Ausstellung und Blickfang des Begleitbuches; sie sind aber in dem von den Herausgebern und Kuratoren gesetzten Konzept „Tradition, Moderne und Zeitgenossenschaft“ nur der Ausgangspunkt für eine intensive Auseinandersetzung mit der Kunst der arabischen Welt und des Nahen Ostens am Ende des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Katalog mit seinem großen Abbildungsformat gewährt zunächst noch einmal jedem einzelnen Gegenstand seinen „Soloauftritt“ und der Beitrag von Avinoam Shalem und Eva-Maria Troelenberg würdigt die Ausstellung von 1910 als einen geradezu paradigmatischen Wendepunkt, der die islamische Kunst vom Orientalismus und der manchmal obsessiven Mode des Exotischen am Ende des 19. Jahrhunderts erlöste, der aber angesichts der plötzlichen und grundlegenden Wandlung abendländischer Kunst und Architektur im frühen 20. Jahrhundert gar nicht so überraschend war. Der Einfluss der Ausstellung auf westliche Künstler, auf Marc, Klee und Matisse zum Beispiel, und wichtige weitere Ausstellungen islamischer Kunst bis in die Gegenwart sind Themen weiterer Essays, die auf das zentrale Anliegen von Ausstellung und Katalog hinführen: Die Wahrnehmung, die Inhalte und die Präsentation islamischer Kunst in der Gegenwart. Ein breiter Überblick über deren hochaktuelle Themen, die vom ungebremsten Wachstum, vom Raubbau an der Natur, von Flüchtlingslagern bis zum Wandel der Golfregion reichen, findet sich ebenso wie die Berücksichtigung der vielfältig neuen Medien wie Film und Video oder raumfüllende Installationen. Wir lesen über den Wandel des Blicks auf die islamische Kunst seit dem 11. September 2001, über die rasant entstehenden Zentren von Kunst und Kultur in Abu Dhabi, Doha, Dubai und Sharjah, die sich aufmachen, alte Kulturzentren wie Beirut, Kairo oder Damaskus aus ihrer althergebrachten Rolle zu verdrängen. Dem übergeordneten Motto „Changing Views“ ist damit glänzend Rechnung getragen und der Katalog ein überzeugendes Plädoyer für die Authentizität und die globale Präsenz und Anerkennung moderner und zeitgenössischer islamischer Kunst.

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