Die Mittelalterlichen Olifante

Autor/en: Avinoam Shalem, Maria Glaser
Verlag: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft
Erschienen: Berlin 2014
Seiten: 512 Textband, 158 Tafelband
Ausgabe: Leinenbände
Preis: € 250,00
ISBN: 978-3-87157-235-7
Kommentar: Michael Buddeberg, Februar 2015

Besprechung:
Die Geschichte des großartigen Buches von Avinoam Shalem und Maria Glaser über die mittelalterlichen Olifante beginnt vor hundert Jahren. 1914 erschien der erste Band des von Adolph Goldschmidt herausgegebenen Corpus der mittelalterlichen Elfenbeinarbeiten, des gewichtigsten und renommiertesten der großen Denkmalpublikationen des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft. Waren es damals die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und sächsischen Kaiser, so beschäftigten die geheimnisvollen Olifante, jene mit reichen Schnitzereien versehenen Hörner aus den Stoßzähnen afrikanischer Elefanten schon bald einen der bedeutendsten Orientalisten des 20. Jahrhunderts, Ernst Kühnel (1882-1964). Er veröffentlichte 1921 einen ersten Beitrag über die „orientalischen Oliphanthörner“, ein Thema, das ihn sein ganzes Leben begleiten sollte und das in seinem 1972 posthum erschienenen Werk über die islamischen Elfenbeinskulpturen (Band 7 des erwähnten „Corpus“) mit einem Kapitel über die „sarazenischen Olifante“ seinen vorläufigen Höhepunkt fand.

Es ist in der wissenschaftlichen Literatur keineswegs ungewöhnlich, dass Publikationsprojekte auf viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte angelegt sind. Die 1819 vom Freiherrn von Stein begründeten Monumenta Germaniae Historica sind hier ein prominentes Beispiel für viele andere. Dabei sind es oft nicht die Themen, die bei derartigen Reihen für zögerliches Erscheinen verantwortlich sind, sondern schlicht der Umstand, ob es für ein anstehendes Thema einen Autor gibt oder nicht. Und bis zu dem Glücksfall, dass beide kongenial zusammenfinden, können dann Generationen vergehen. Dass nun der 1959 in Haifa/Israel geborene Kunsthistoriker Avinoam Shalem sich des Themas der mittelalterlichen Olifante angenommen hat, ist – man kann es nicht anders ausdrücken – ein solcher Glücksfall. Schon Shalems Dissertation (Frankfurt 1996 – und schon in zweiter Auflage vergriffen) über islamische Objekte in mittelalterlichen Kirchenschätzen offenbarte seinen interdisziplinären Ansatz, die kunsthistorischen Fachrichtungen über westlich-abendländische, byzantinische und islamische Kunst in seine Betrachtungen einzubeziehen. Dieser Ansatz musste fast zwangläufig zu einem vertieften Interesse für die geheimnisvollen Olifante führen, fanden sich doch sehr viele der bekannten Exemplare, auch wenn sie heute über die ganze Welt verstreut sind, in diesen mittelalterlichen Kirchenschätzen und ist ihre Herkunft aus dem mediterranen Kulturraum des 11. und 12. Jahrhunderts zwar unstreitig und doch im Detail ungeklärt und rätselhaft. Mögen die Olifante nun aus Sizilien stammen oder aus Süditalien, aus Byzanz oder gar aus Ägypten – nahezu alle der Herkunftsangaben bleiben mit einem Fragezeichen versehen – so sind sie doch alle ein Zeugnis der kulturellen Vielfalt des mediterranen Raumes ohne Rücksicht auf die oft rasch wechselnden politischen und religiösen Grenzen. Keine anderen Objekte als diese aus den schon damals kostbaren Stoßzähnen der Elefanten geschnitzten Blasinstrumente vermögen es besser, die enge Verflechtung der abendländischen, byzantinischen und arabisch-muslimischen Kulturen sichtbar zu machen. Es sind Instrumente, die sich einer klaren Zuordnung zu dem einen oder anderen Kulturkreis entziehen, Objekte, die zwischen den Kulturen wandern, womit sich vielleicht auch das Phänomen erklärt, dass Olifante in solch beachtlichem Umfang Aufnahme in christliche Kirchenschätze fanden.

Es war dem Autor ein Anliegen, alle bis heute bekannten Olifante zu erfassen, die prächtigen geschnitzten Exemplare aus den großen Museen dieser Welt, kleine und größere Fragmente, bisher unpublizierte Exemplare aus privaten Sammlungen, schwer einzuordnende Hörner ohne Dekor und solche aus der Zeit nach dem eigentlichen Hochmittelalter bis ins 16. Jahrhundert. Etwa einhundert Olifante sind publiziert, im Katalogband mit allen für eine wissenschaftliche Dokumentation erforderlichen Einzelheiten wie insbesondere Provenienz, exakte Beschreibung, eventuelle mit den Objekten verbundene Legenden und Geschichten oder andere Besonderheiten vorgestellt und im foliogroßen Tafelband nach allen Regeln der Objektfotografie in Schwarz-Weiß, wo erforderlich von allen Seiten abgebildet. Der Stand der Forschung, die vorhandene Literatur zu den Olifanten, das Material – Elfenbein und in einigen Fällen auch Walroßzähne – und seine Bedeutung im Mittelalter, die handwerklichen Arbeitstechniken und die Werkzeuge werden ausführlich behandelt. Zentrale Themen aber sind natürlich die stilistische – und damit auch zeitliche Gruppierung der Olifante und schließlich deren Funktion, ihr Gebrauch und ihre Bedeutung. Da frühe schriftliche Quellen fehlen und der kulturelle Schmelztiegel der Mittelmeerraumes ebenso wie die Mobilität von Objekt und Künstler eine klare geographische und zeitliche Zuordnung erschweren, bleibt die Einteilung in drei oder auch vier verschiedene Stilrichtungen diskutabel. Zweifellos aber ist das von Shalem als fatimidisch geprägter Stil des „Tierdekors in Kreisen“ bezeichnete Design, ein dichter Dekor aus wilden und fantastischen Tieren, organisiert in einem Medaillongeflecht oder in vertikalen Bahnen, der ästhetische Höhepunkt im Corpus der Olifante. Dieser aufwändige Dekor macht neben dem kostbaren Material deutlich, dass Olifante Prunkinstrumente und Prestigeobjekte für besondere Anlässe waren, Objekte also, die durch Farbe, Glanz und Kostbarkeit des Materials, vor allem aber durch ihre Ikonographie, durch die starken und wilden Tiere und durch Jagd- und Tierkampfszenen die Idee von Mut und Macht visualisieren sollten. Diese Olifante sind ein Zeugnis für eine sich im 11. und 12. Jahrhundert herausbildende säkulare Ikonographie, für ein zunehmendes Interesse an der Darstellung der Natur, vor allem von Tieren. Sie stehen am Anfang der Rezeption orientalischer Formensprachen in den Corpus mediterraner Kunst und damit auch am Anfang einer ganz spezifischen materiellen Kultur. Nicht von ungefähr stellt Shalem Anmerkungen über die „Kunst des Objekts“, eines von Oleg Grabar in der siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geprägten Begriffs, an den Anfang seiner Untersuchung und beschreibt den Weg des Objekts vom gering geachteten Gegenstand des Kunsthandwerks bis zu seiner heute in der Kunstgeschichte erreichten Gleichrangigkeit mit den so genannten „schönen Künsten“. Olifante und die bewundernswerte Arbeit von Avinoam Shalem und Maria Glaser sind hierfür ein treffliches Beispiel. Zu erwähnen ist noch die beigefügte Audio-CD, auf der die beiden Olifante des Berliner Museums für Islamische Kunst zum Klingen gebracht werden, ein einzigartiges Experiment, das eine ferne Vergangenheit machtvoll, tragend und geheimnisvoll akustisch wahrnehmbar macht.

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