Pamir – Vergessenes Volk auf dem Dach der Welt

Autor/en: Matthieu und Mareile Paley, Ted Callahan
Verlag: Knesebeck Verlag
Erschienen: München 2012
Seiten: 256
Ausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
Preis: € 39,95
ISBN: 978-3-86873-516-1
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 2012

Besprechung:
Ist die Rede vom „Dach der Welt“ denkt fast jeder an Tibet, dieses von den größten Gebirgszügen dieser Welt umschlossene Hochland, an seine nomadischen, Yaks züchtenden Bewohner und ihr geistiges Oberhaupt, den von den chinesischen Besatzern ins Exil vertriebenen Dalai Lama. Auch der Himalaya mit dem Mount Everest und zahlreichen weiteren Achttausendern wird häufig mit dem metaphorischen Sinnbild „Dach der Welt“ bezeichnet. Schaut man indessen in ältere Nachschlagewerke findet man, dass dieser Begriff zunächst für ein ganz anderes zentralasiatisches Gebirge geprägt und benutzt wurde, für ein komplexes System von Hochflächen und zahlreichen bis über 7000 Meter aufragenden Bergen, für einen Knotenpunkt gewissermaßen, in dem die chinesischen Gebirgssysteme des Tien Shan und des Kunlun Shan mit den nordwestlichen Ausläufern des Himalaya, dem Karakorum und dem Hindukusch zusammentreffen. Und in der Tat benutzen die inmitten des Pamir lebenden Bauern und Nomaden vom Stamme der Wakhi für ihre Heimat seit jeher die Bezeichnung Bam-i-Duniah, was übersetzt eben jenes Dach der Welt meint. Einst eine von russischen und britischen Expeditionen und Forschern im Great Game, dem Rennen um die Macht in Zentralasien, bestens erforschte Region, ist der Pamir heute fast vergessen. Seine Lage inmitten einer politisch brisanten Region, wo Tadschikistan, China, Kirgistan, Afghanistan und Pakistan aufeinander treffen, hat den Pamir total ins Abseits geraten lassen; die Region ist heute so gut wie unzugänglich. Vergessen ist auch das Schicksal der afghanischen Kirgisen, die früher zwischen den Sommerweiden im Pamir und ihren Winterquartieren in den Tälern von Tadschikistan gewechselt haben. Die geopolitische Entwicklung fesselte die Kirgisen an ihren Winteraufenthalt im so genannten Wakhan-Korridor, einem 270 Kilometer langen und teilweise nur wenige Kilometer breiten Landstreifen, der im russisch-britischen Pamirvertrag Afghanistan zugeschlagen wurde, um so das britisch beherrschte Indien vom russischen Zarenreich zu trennen. Es herrschen in diesen Hochtälern, eingeschlossen von heute unüberwindbaren Staatsgrenzen und 5500 Meter hohen Gebirgsmassiven die wohl härtesten Lebensbedingungen, die Menschen auszuhalten haben. Die russische Invasion im Jahre 1979 tat ein Übriges, das Volk auseinander zu reißen, ein Teil floh nach Pakistan, ein weiterer Teil siedelt noch heute im Osten der Türkei. Dies ist der Rahmen für ein illustriertes Reiseabenteuer der ganz besonderen Art. 1999 haben der französische Fotograf Matthieu Parey und seine deutsche Frau Mareile den Pamir und seine vergessenen Bewohner erstmals kennen gelernt und seither wieder und wieder, auch im Winter besucht. Die logistischen Probleme solcher Reisen ins Ungewisse, das tagelange Wandern mit Karawanen oder auch ganz alleine, begleitet nur von einem bepackten Esel, das immer tiefere Eintauchen in eine von der unseren weit entfernte Lebensart und Gedankenwelt, die Entbehrungen, die ein extrem karges Land und ein grausames Klima mit sich bringen, werden in Form von episodenhaften Reiseberichten lebendig und mitreißend geschildert und von professionellen Fotos begleitet, die von der Härte des Lebens dieser Menschen berichten, von der Mühsal und der täglichen Arbeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten, aber auch von ausgelassenen Festen, der bedingungslosen Gastfreundschaft und von der Nähe zwischen den Autoren und ihren Gastgebern, die nur durch Verständnis, Vertrauen und wiederholte Besuche entstehen kann. Der rote Faden, der sich durch das Buch zieht ist ein Matthieu und Mareile Paley übernommener Briefträgerdienst zwischen der Türkei und dem Pamir, der die seit Jahren in Afghanistan, Pakistan und nach Anatolien verschlagenen Familienteile wieder einander näher bringt. Die eingestreuten Texte des amerikanischen Ethnologen Ted Callahan schließlich, der als erster westlicher Forscher lange bei diesen Nomaden lebte, um deren Lebensverhältnisse zu studieren, informieren über die Geschichte dieses Volkes, seine karge Ernährungsgrundlage, den Jahresablauf mit sieben bis 8 Monaten Winter mit Temparaturen uner minus 40 Grad, die extrem hohe Kinder- und Müttersterblichkeit und das ungelöste gesellschaftliche Problem des Opiumkonsums. Vor diesen Problemen der vergessenen afghanischen Kirgisen scheint das Dasein eines anderen Volkes, das in der Pamirregion und ebenfalls in verschiedenen der aneinander angrenzenden Ländern lebt, weit weniger dramatisch. Es ist das ismailitische Volk der halbnomadisch lebenden sunnitischen Wakhi, das zwar ebenfalls unter der geopolitischen Situation leidet, doch durch das Netzwerk des Aga Khan immerhin eine gewisse Unterstützung erfährt und nicht ganz so vergessen ist, wie die afghanischen Kirgisen. Ein Buch nicht nur für Ethnologen und Nomadenfreunde, sondern für jeden, der an extremen Landschaften und den Menschen, die dort leben, Interesse hat.

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