Qaraqalpaqs of the Aral Delta

Autor/en: David und Sue Richardson
Verlag: Prestel Verlag
Erschienen: München London New York 2012
Seiten: 480
Ausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
Preis: € 125,00
ISBN: 978-3-7913-4738-7
Kommentar: Michael Buddeberg, November 2012

Besprechung:
Nicht Tschernobyl und auch nicht Fukushima gelten als die folgenschwersten Umweltkatastrophen, sondern das Verschwinden des Aralsees. Dort, wo einst – wohlgemerkt, das war vor nur 50 Jahren – sich der viertgrößte Binnensee der Welt dehnte, mit einer Fläche, die fast der Fläche Bayerns entsprach, reich an Fischen und eines der landschaftlichen Juwelen Innerasiens, erstreckt sich heute eine von Stürmen geplagte, unbewohnbare Sand- und Salzwüste, in der nur die Leichen rostender Fischkutter von der vergangenen Zeit künden. Mehrere vereinzelte, kleinere Seen sind das einzige, was vom Aralsee blieb; sie haben einen bis zu einhundertfach höheren Salzgehalt als der ehemalige Aralsee, sind organisch tot und werden in einigen Jahren ganz verschwunden sein. Die wasserreichen von den Gletschern des Pamir-Gebirges gespeisten Zuflüsse Syr Darja und Amur Darja – der antike Oxus – erreichen die Region allenfalls als Rinnsale seit ihr Wasser von der ehemaligen Sowjetunion durch ein aufwendiges Kanalsystem fast vollständig zur Bewässerung gigantischer Baumwoll-Monokulturen eingesetzt wurde. Auch das früher fruchtbare, im Süden das Aralsees gelegene artenreiche Araldelta, der Lebensraum der meist halbnomadisch lebenden turkstämmigen Karakalpaken, leidet unter der von Menschen gemachten Katastrophe. Rückstände der überreich eingesetzten Pestizide und der für die Baumwollernte zur Entlaubung der Pflanzen genutzten, hochgiftigen Chemikalien sowie Reste der von den Sowjets früher in der Region getesteten, chemischen und biologischen Waffen verseuchen Boden und Luft und dürften das heute zum westlichen Usbekistan gehörende Karakalpakistan zum ungesundesten Platz dieser Erde machen. Kein Platz also für Tourismus oder Badeurlaub und Grund genug, dass die Karakalpaken, ihre Geschichte und Kultur fest vergessen sind. Auch die erste Reise des an zentralasiatischen Textilien interessierten Sammlerehepaars David und Sue Richardson aus Nottingham zu den Karakalpaken geriet mangels jeder touristischen Infrastruktur fast zum Fiasko. Doch die Neugierde war geweckt und nach 14 Jahren intensiver Feldforschung, vielen Reisen in die Region, Studien in Museen und Sammlungen und Sichtung der gesamten vorhandenen, überwiegend russischen Literatur haben die Richardsons ein Buch über die Karakalpaken im Aral Delta geschrieben, das allerhöchste Bewunderung verdient. Es sind eigentlich vier Bücher. Im ersten lesen wir über die Herkunft und Geschichte dieses Volkes, über das Aral Delta, wo sie seit einigen hundert Jahren siedeln und ihm an Feldfrüchten und Nutztieren abringen, was das schwierige Schwemmland hergibt, über die Veränderungen ihrer Umwelt im letzten halben Jahrhundert und über das dadurch vom zunehmender Armut gezeichnete Leben. Dass auch im Aral-Delta das 21. Jahrhundert angekommen ist, die Hauptstadt Nukus einen leidlich modernen Anblick bietet und eine medizinische Grundversorgung gewährleistet zu sein scheint, vermag nicht zu verhindern, dass die Kinder- und Müttersterblichkeit immens ist und sich früher unbekannte Krankheiten häufen. Vor diesem Hintergrund ist es immerhin eine positive Nachricht, dass die materielle Kultur der Karakalpaken in dem unlängst neu gebauten „Qaraqalpaq State Museum of Art“ eine angemessene Präsentation erfahren hat. Benannt ist das Museum nach dem ukrainischen Maler Igor Savitsky, der schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen hatte, die Volkskunst der Karakalpaken zu sammeln. Dieser materiellen Kultur sind dann die drei weiteren Bücher des Werkes gewidmet, den Webarbeiten und Textilien, Kostümen, Tracht und Schmuck und schließlich der Yurte und deren Ausstattung, hier insbesondere gewebten und geknüpften Bändern und Taschen, sowie kleinen und großen Knüpfteppichen. Welches dieser Themen die Autoren auch immer aufgreifen, es wird mit einer schier unglaublichen Sorgfalt, wissenschaftlichen Akribie und fachlicher Tiefe behandelt und von reichem Abbildungsmaterial begleitet. Zahlreiche historische Fotos, meist von russischen Forschungsexpeditionen aus dem ersten Drittel des 20 Jahrhunderts, Objekte aus den reichen Sammlungen des Savitsky-Museums und der Sammler selbst, aber auch aus der Eremitage, der Kunstkamera und dem Russisch Ethnografischen Museum in St. Petersburg, um hier nur die wichtigsten zu nennen, summieren sich zusammen mit zeitgenössischen Aufnahmen zu über eintausend Abbildungen. Als Beispiele seien hier der kiymeshek, der typische Kopfschmuck karakalpakischer Frauen und die karakalpakische Yurte genannt. Der kiymeshek ist eine Art Kopftuch, mit dem das Haar, Nacken, Schultern, Rücken und Brust bedeckt werden, der aber das Gesicht frei lässt, ein unverzichtbarer Teil der Frauentracht, dessen überreicher gestickter Dekor Schutz gegen den bösen Blick und anderes Unheil gewähren soll. Mehrere Dutzend dieser kiymeshek zeigen interessante Materialkombinationen, auch die Verwendung zentralasiatischer Ikatstoffe, vor allem aber eine verblüffende Vielfalt unterschiedlichster und sehr oft turkmenisch beeinflusster Muster. Und in keiner anderen Publikation, sieht man einmal von dem 2-bändigen Standardwerk von Peter Andrews ab (1997/1999), wurde je mit einer derartigen Fülle von Abbildungen die Konstruktion und der Aufbau der zentralasiatischen Yurte, deren handwerkliche Herstellung und deren Schmuck dargestellt, wie in dem Buch von David und Sue Richardson. Die Muster der meist in Mischtechnik gearbeiteten Bänder und Türteppiche für diese Yurten werden vor allem die Sammler und Forscher turkmenischer Knüpferzeugnisse interessieren, die hier vielleicht Antworten auf offene Fragen finden. Entsprechendes gilt für die Teppiche der Karakalpaken. Seit den Veröffentlichungen der russischen Sammler Dudin und Bogolyubov im frühen 20. Jahrhundert – allerdings haben beide Karakalpakistan nie besucht – ist die Frage, ob die Karakalpaken Teppiche geknüpft haben und, wenn ja, mit welchen Mustern, ein immer wieder heiß diskutiertes Thema. Diese Unsicherheit hat vielfach dazu geführt, dass immer dann, wenn ein zentralasiatischer Teppich nicht mit Sicherheit einem turkmenischen Stamm zuzuordnen war, die Karakalpaken herhalten mussten. David und Sue Richardson erklären überzeugend, dass die ethnische Herkunft der Karakalpaken aber auch ihre Wirtschaftform und das klimatische Umfeld des Araldeltas gegen eine genuine Knüpftradition sprechen. Doch die enge und oft friedliche Nachbarschaft zu turkmenischen Stämmen habe immer wieder zu einem Kulturaustausch geführt, auch dazu natürlich, dass Karakalpaken turkmenische Frauen geheiratet haben. So sind in Karakalpakistan auch Teppiche entstanden, wie man sie auf bisher nicht veröffentlichen Fotos des russischen Forschers Melkov aus 1928/29 sehen kann. Knüpfen, so meinen die Autoren, war im Araldelta in jener Zeit eine durch die Nähe zu den Turkmenen bedingte Mode, die aufgrund der sowjetischen Kollektivierungsaktivitäten keine Chance hatte, zu einer Tradition zu werden. Mit diesen knappen Anmerkungen zu einigen der behandelten Themen kann hier die Fülle des Materials und die Sorgfalt seiner Bearbeitung leider nur oberflächlich angedeutet werden. Ein ganz außergewöhnliches Buch!

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