Autor/en: Erich Kasten (Hrsg)
Verlag: Reimer Verlag – Linden Museum
Erschienen: Berlin – Stuttgart 2008
Seiten: 252
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 39.90 (Buchhandelsausgabe)
ISBN: 978-3-496-02812-3
Kommentar: Michael Buddeberg, Januar 2009
Besprechung:
Ethnografische Entdeckungen sind zu Beginn des 21 Jahrhunderts vor Ort kaum noch zu machen, und eine völkerkundliche Sammlung heutzutage neu aufzubauen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Wellen der Globalisierung und damit die konsumorientierte Versorgung mit industriell vereinheitlichten Gebrauchs- und Verbrauchgütern haben heute auch die entferntesten und vergessensten Winkel unseres Globus erreicht und die letzten Reste ursprünglicher materieller Kulturen hinweggespült. Und dennoch gibt es Orte, wo auch heute noch erstaunliche Funde gemacht werden können. Es sind die Depots großer Museen, wo manche Schätze durch unvollkommene Archivierung, Personalwechsel und Kriegswirren total der Vergessenheit anheim fielen und in staubigen dunklen Kellern ihrer Wiederentdeckung entgegendämmern. So geschehen im Linden-Museum in Stuttgart. Eine bedeutende Sibirien-Sammlung war nach der Auslagerung im 2. Weltkrieg in falsch beschriftete Kisten verpackt worden und damit aus dem Gedächtnis des Museums verschwunden. Ihre zufällige Entdeckung ermöglicht und bereichert nun ein gemeinsames Projekt des Linden-Museums und des Russischen Ethnografischen Museums St.Petersburg und die daraus hervorgegangene gemeinsame Ausstellung über die Schamenen Sibiriens (in Stuttgart bis zum 28.06.2009). Das dazu erschienene, von dem Kulturanthropologen und Sibirienforscher Erich Kasten herausgegebene Buch ist weit mehr als bloss ein Katalog. Es ist vielmehr eine umfassende Anthologie des sibirischen Schamanismus in all seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen bei den vielen sibirischen Völkern, eine Darstellung der schamanistischen Rituale und Attribute und die Geschichte der Konfrontation des Schamanismus mit Buddhismus, Christentum und sowjetisch-kommunistischem Atheismus bis zu seiner Revitalisierung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Das Buch schafft damit eine Möglichkeit, sich dem geheimnisvollen, letztlich bis heute unerklärlich gebliebenen Phänomen des Schamanismus anzunähern und eine eigene Antwort auf die Frage zu versuchen, was das eigentlich ist und wie das funktioniert. Die Autoren, allen voran Erich Kasten, beantworten diese Fragen nicht, stellen vielmehr aus der nunmehr etwa ein Jahrhundert alten Beschäftigung mit diesem Phänomen fest, dass jede Deutung immer nur den individuellen, kulturellen und wissenschaftlichen Hintergrund des jeweiligen Interpreten, sei es nun ein Reisender, ein Abenteurer oder ein Wissenschaftler, offenbart und entsprechend vielschichtig und unterschiedlich ist. So reichen denn die Bewertungen von Schamanan von „geistesgestörten Außenseitern“ über „erbärmliche, einem Irrglauben anhängende Akteure“ bis zu „kreativen Persönlichkeiten mit scharfem Verstand, starken Willen und sprühender Einbildungskraft“. Tatsache ist, dass der Schamane eine hohe Verantwortung für seine Gruppe trug, dass er es verstand, die Signale der Natur zu deuten, als deren Teil die Menschen sich verstanden. Natur aber war bei den Völkern Sibiriens ein sehr differenziertes, stets hochkompliziertes Gefüge aus ganz realen und daneben bestehenden Scheinwelten mit diese untereinander verbindenden, kosmologischen Vorstellungen, sämtliche belebt mit Hilfsgeistern und anderen Geistwesen. Im schamanistischen Ritual reiste der Schamane als Verkörperung seiner Gruppe in andere Welten und setzte sich dort für deren Schicksal ein. Unterstützt von Hilfsgeistern suchte er Rat, um die richtigen Entscheidungen für den Einzelnen wie für die Gruppe zu treffen. Die Erfolge, beispielsweise auf dem Gebiet der Heilung von Krankheiten und Gebrechen, waren und sind oft so frappierend wie unerklärlich. Die physischen und psychischen Voraussetzungen für den Beruf des Schamanen, das Erkennen seiner Eignung und Fähigkeiten, Ausbildung und Initiation und die Hilfsmittel für Trance und Beschwörung hilfreicher Kräfte, die Schamanentrommel, halluzinogene Pflanzen und Pilze, Geweihkronenund andere Kopfbedeckungen, Amulette und vor allem die phantasiereichen mit einer Fülle von geheimnisvollen Symbolen aus Metall, Leder und Textilien versehenen Schamanengewänder werden beschrieben, analysiert und in einzigartigen Exemplaren aus den Depots der beiden Museen gezeigt. Schamanistische Rituale und traditionelle Feste der verschiedenen sibirschen Völker, der Jakuten, Burjaten, Evenken, Korjaken und zahlreichen anderen mehr, werden eingehend behandelt ebenso wie die Wiederbelebung des Schamanismus im heutigen Russland und das Beispiel einer aktiven Schamanenklinik in Tuva. All das ist eingebettet in eine sorgfältige Beschreibung der Völker und Regionen Sibiriens, eines riesigen Landes, das mit seinen geheimnisvollen Kulturen und atemberaubenden Landschaften schon immer Reisende, Forscher und heute zunehmend auch Touristen in seinen Bann zieht. Die Vielfalt schamanistischer Erscheinungsformen entspricht der Vielfalt der Natur, die von arktischen Eiswüsten mit spärlicher Vegetation mit Moosen und Flechten über Tundra und Taiga bis zu südlichen Wald- und Grassteppen reicht. Das Buch ist eine reiche Informationsquelle über ein von einer oft lebensfeindlichen Natur geprägtes Land und dem daraus entstandenen animistischen Weltbild seiner Bewohner, dargestellt in Dutzenden spannender Essays und mit einer großen Zahl seltener ethnographischer und kunsthandwerklicher Artefakte.