Sibirien und Russisch-Amerika – Kultur und Kunst des 18. Jahrhunderts

Autor/en: Brigitta Hauser-Schäublin, Gundolf Krüger (Hrsg)
Verlag: Prestel Verlag
Erschienen: München Berlin London New York 2007
Seiten: 304
Ausgabe: Hardbound mit Schutzumschlag
Preis: € 65.–
ISBN: 978-3-7913-3786-9
Kommentar: Michael Buddeberg, August 2007

Besprechung:
Sibirien – Perle oder Leid Russlands? Seit Sibirien im Bewusstsein Europas präsent ist, ist es ein Land der Verbannung, der Sklaverei und des Leids, aber auch ein Land der Freiheit, des Reichtums und der unbegrenzten Möglichkeiten. Gefangenschaft, Arbeitslager, Grausamkeit und Tod verbinden sich mit Sibirien, aber auch die Verheißung von Abenteuer, ein unerschöpflicher Reichtum an Natur- und Bodenschätzen, an Pelztieren, Holz und Kohle, Gold, Silber und vieles andere mehr bis zu Erdöl und Erdgas im Überfluss. Der Reichtum Sibiriens war stets Verlockung und sein menschenfeindliches Klima zugleich Abschreckung. Eroberung, Ausbeutung und Missbrauch Sibiriens sind gewiss eine Hypothek für das moderne Russland, das aber andererseits seine wirtschaftliche Potenz und Macht in der heutigen Welt fast ausschließlich dem Erdöl und Erdgas verdankt, das aus sibirischem Boden gewonnen wird. Die russische Eroberung dieser fast 13 Millionen qkm großen Landmasse, das ist etwa die Größe von Europa und Kanada zusammen, begann schon im 16. Jahrhundert mit der Jagd nach dem „weichen Gold“, den Pelzen von Zobel, Nerz und Seeotter und einer nachfolgenden nur zögernden Besiedlung. Die eigentliche Erforschung Sibiriens mit großen Expeditionen blieb dem 18. Jahrhundert vorbehalten. Mehreren Expeditionen unter maßgebender deutscher Beteiligung zeigte sich Sibirien als ein heterogenes, multiethnisches und multikulturelles Land. Baron Georg Thomas von Asch (1729-1807), ein deutschstämmiger, angesehener und erfolgreicher Arzt in St. Petersburg, nahm großen Anteil an diesen Expeditionen und trug dank seiner engen Verbindung zu Expeditionsteilnehmern eine bedeutende Sammlung ethnographischer Objekte aus Sibirien zusammen. Von Asch hatte in Göttingen an der Georg-August-Universität studiert, blieb seiner Alma Mater zeitlebens eng verbunden und hat seine Sammlungen, darunter auch eine bedeutende Bibliothek zur Slavistik, Münzen und Medaillen aus Russland und dem Orient, Schädel sibirischer Ethnien, vor allem aber die sibirischen Ethnographica schon zu seinen Lebzeiten der Universität Göttingen zum Zwecke von Forschung und Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Zum 200. Todestag des Baron von Asch wurde nun diese seit dem 18. Jahrhundert in der Universität Göttingen verwahrte Sammlung erstmals publiziert. 180 Objekte aus den Bereichen Alltag, Haushalt, Jagd, Krieg, Religion und Musik werden in dem in jeder Hinsicht gelungenen Buch beschrieben, abgebildet und in den historischen, politischen, geographischen und kulturellen Kontext gestellt. Die von Baron von Asch gesammelten Gegenstände gehören weltweit zu den frühesten erhaltenen Zeugnissen des Hohen Nordens, der so genannten Zirkumpolar-Region. Ein vollständig erhaltenes Schamanengewand, das bereits im Jahre 1788 an die Georgia Augusta gelangte, ist zweifellos das Top-Objekt der Sammlung, doch weitere Kleidungsstücke, etwa ein Regenhemd aus den Därmen von Seehund, Seelöwe und Walfisch, Schnitzereien aus Walrosszahn, geflochtene Hüte, Harpunen, Schmuck und Tabakspfeifen und vieles andere mehr summieren sich zu einer eindrucksvollen Dokumentation des Lebens der Völker des Hohen Nordens aus der Zeit vor dem Beginn ihrer Kolonialisierung. Und wir sehen nicht nur die materielle Kultur der indigenen Völker Sibiriens, der Tataren, Jakuten, Burjaten, Kalmücken, Tungusen und anderer, sondern auch die der Inselbewohner der Kurilen und Aleuten und schließlich der Inuit Alaskas. Auch dieser nordwestlichste Teil des amerikanischen Kontinents, man nannte es „Russisch-Amerika“, gehörte damals zum Einflussbereich des russischen Zaren und wurde zusammen mit den Aleuten erst 1867 an die USA verkauft. Beiträge namhafter Wissenschaftler, Historiker, Kulturgeographen, Geowissenschaftler, Archäologen, Paläopathologen, Musikwissenschaftler, Kunsthistoriker, Bibliothekswissenschaftler, Slawisten, Sinologen und Ethnologen erschließen die Sammlungen des Barons von Asch durch entsprechende Fachbeiträge. Das ist interessant, kompetent und lehrreich, doch was das Buch weit über diese Dokumentation einer bedeutenden und frühen Sammlung hinaus so empfehlenswert macht, sind die einleitenden Essays über die Geschichte Sibiriens, über die Eroberung und Kolonisierung Sibiriens durch Russland und schließlich über die Menschen und ihre ethnische Befindlichkeit in Sibirien von heute. Die Zeit bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums war geprägt von der Idee der Nutzung und Ausbeutung einer fernen Region, von Unterdrückung und Unterprivilegierung indigener Gruppen. Das hat sich seither geändert. Die unter der sowjetischen Politik der Vertreibung und Umsiedelung zu einer unbedeutenden Minderheit geschrumpften Volksgruppen sind erstarkt und finden Unterstützung in russischen Umsiedlern, für die Sibirien trotz aller klimatischen Unbill zur zweiten Heimat geworden ist. Es könnte durchaus sein, dass sich Sibirien zur Perle Russlands entwickelt und dass das damit verbundene Leid der Vergangenheit angehört. Dieser hoffnungsvolle und wohlbegründete Ausblick macht deutlich, dass das Buch weit mehr ist als die wissenschaftliche Publikation einer bedeutenden ethnographischen Sammlung des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Es ist eines der informativsten, bestens recherchierten und geschriebenen Bücher, die man heute über Sibirien lesen kann.

Print Friendly, PDF & Email