Kirgistan – Ein ethnografischer Bildband über Talas

Autor/en: Judith Beyer, Roman Knee
Verlag: Hirmer Verlag
Erschienen: München 2007
Seiten: 224
Ausgabe: Hardbound
Preis: € 39.90
ISBN: 978-3-7774-3805-4
Kommentar: Michael Buddeberg, Dezember 2007

Besprechung:
Zentralasien ist das Herz des eurasischen Kontinents. Als die meisten Hauptstädte des heutigen Europa kaum mehr als provinzielle Marktflecken waren, blühten in Mittelasien bereits bedeutende Metropolen der Alten Welt: Samarkand, unter Dschingis Khan und später unter Timur Hauptstadt von gleich zwei der größten Weltreiche aller Zeiten, oder Buchara, eines der wichtigsten islamischen Zentren des Mittelalters. Die Entdeckung der Seewege zwischen Europa und Asien bedeutete dann den Infarkt für Zentralasien. Die Hauptschlagader der Region, die Seidenstraße, verödete; Städte, Landschaften, ganze Länder gerieten für Jahrhunderte in Vergessenheit. Erst im 19. Jahrhundert waren es neugierige Reisende, getrieben von Entdeckerfreude und Abenteuerlust, die erste Kunde und erste Photographien von nie geschauten Bauwerken, von eigenartigen Zelten und ihren urigen, seltsam gewandeten Bewohnern brachten. Es war die Geburtsstunde der photographischen Ethnographie und wir sind heute dankbar für jedes frühe photographische Zeugnis aus diesen damals so entlegenen Regionen. Doch die Zeit der Entdeckungen währte nur wenige Jahrzehnte, denn mit der sowjetischen Eroberung des Ostens begann eine erneute Phase der Unzugänglichkeit und des Vergessens. Erst mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches am Ende des 20. Jahrhunderts rückte Zentralasien wieder in den internationalen Blickpunkt. Staatengründungen, reiche Bodenschätze, eine neue Ausbreitung des Islam, strategische Überlegungen und attraktive Ziele für den Ferntourismus wurden zu aktuellen Themen. Was soll nun in diesem modernen Szenarium ein ethnografischer Bildband, noch dazu über Talas, eine so gut wie unbekannte und schwer zugängliche Region im Nordwesten der kleinen zentralasiatischen Republik Kirgistan? Doch die Skepsis am betulichen Untertitel erweist sich als unangebracht. In Zeiten raschen Umbruchs ist Feldforschung notwendiger denn je, und da Ethnologie und Fotografie einander in diesem Buch so ideal ergänzen, gewinnen wir tiefe Einblicke in die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der modernen kirgisischen Gesellschaft. Die Autoren haben als Gast ein ganzes Jahr bei kirgisischen Familien in einem entlegenen Bergdorf gelebt, gearbeitet und fotografiert, das Alltagsleben dokumentiert und sie verstehen es, den Konflikt zwischen der nomadischen Vergangenheit des kirgisischen Volkes, 70 Jahren sowjetischer Unterdrückung und dem Wiedererstarken des Islam lebendig, glaubhaft und durchaus spannend darzustellen. Kirgise zu sein bedeutete über Jahrhunderte, Hirtennomade zu sein. Aus der Sicht dieser Nomaden führten Sesshafte ein elendes Leben und nur der Nomade lebte in Würde. Mit der sowjetischen Zwangskollektivierung ab den 30er Jahren des 20 Jahrhunderts jedoch verschwand das freie Nomadentum fast vollständig und die nomadische Jurte wurde selten. Heute leben die Menschen in wenigen Städten und in Dörfern, betreiben Landwirtschaft, Ackerbau und dörfliche Kleintierzucht. Doch das nomadische Erbe ist nicht verloren. Das Pferd ist noch immer das prestigeträchtigste Tier in Kirgistan, der Bergnomadismus mit Schafen, Ziegen und Pferden wird im Tien Shan Gebirge neu belebt und das wilde Reiterspiel Ulak Tartys, bei dem zwei berittene Mannschaften um einen Ziegenbalg kämpfen, hat in Kirgistan einen Stellenwert wie Fußball oder Cricket in anderen Teilen der Welt. Dieses Kapitel über das traditionelle Reiterspiel ist eines von zwei Dutzend, die mit lebendigen Fotografien den Alltag kirgisischer Menschen in Talas erschließen. Wir nehmen Teil am Dorfleben, besuchen einen städtischen Basar, erleben, wie Benzin nicht nur an Tankstellen, sondern auch in Flaschen am Straßenrand verkauft wird und sind dabei, wie die Pflüge wieder von Pferden gezogen werden, weil es für die sowjetischen Traktoren keine Ersatzteile mehr gibt. 70 Jahre sowjetischer Totalitarismus hat Spuren hinterlassen, die durch Besinnung auf kirgisische Traditionen, durch neue soziale und kulturelle Organisation und durch das Erstarken des Islam zu einem ganzheitlichen Glaubens- und Wertesystem nur allmählich getilgt werden können. Ethnografische Dokumentation und Fotografie ermöglichen einander ideal ergänzend einen tiefen Einblick in die heutige kirgisische Alltagskultur von der Dorfschule zur Moschee, vom Ältestengericht zur traditionellen Herstellung von Filzteppichen, von den kleinen und großen Festen, den Hochzeiten vor allem, bei denen trotz islamischen Zeremoniells Alkohol ausgeschenkt wird, bis zur kirgisischen Bestattungskultur, die lokale, muslimische und russisch-orthodoxe Elemente vereint. Typisch sind hier die Gräber, deren Metallkonstruktionen die Form der Jurte nachbilden und so die Bedeutung des Nomadismus für die Kirgisen symbolisieren. Ein beispielhaftes Buch, das dazu verführen kann, ein Land zu besuchen, bevor es der internationale Tourismus entdeckt hat.

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