Ursprungsland: Nepal oder Süd-Tibet
Alter: 18. Jahrhundert
Erwerb, Provenienz: Ankauf aus dem Handel, Januar 2005
Kommentator: Bruno J. Richtsfeld, Mai 2004

Beschreibung:
Auf der Schauseite vergoldete, von einer Bordüre mit floralem Dekor eingefaßte Plakette mit einer im Hochrelief getriebenen Darstellung des mythischen, halbgöttlichen Vogelwesens Garuda (tib.: K’yung bzw. mK’ah-lding; mong.: Garudi shibaghun; chin.: Jinchiniao), die vermutlich als Altarschmuck diente. Der als Vogelmensch mit gedrungenem Körper dargestellte Garuda-König steht mit ausgebreiteten Armen und nach oben gedrehten Handflächen auf zwei, auf einem Lotossockel liegenden schlangengestaltigen und ineinander verschlungenen Nâga, die er mit seinen Fängen festhält. Auf den Felidenköpfen ähnelnden Häuptern der Nâga sitzen juwelengleiche Auswüchse auf dem Scheitel. Die Handgelenke des Garuda sowie die Ohren tragen Schmuckringe, auf seinem Haupt sitzt eine dreiblättrige Krone sowie ein juwelenförmiger Scheitelschmuck. Den Kopf umgibt ein schmuckloser Nimbus, die Gestalt ist eingefaßt von stilisierten Wolken.

In der Gestalt des mit Adlerkopf, Hörnern und Adlerschwingen bzw. als Vogelmensch-Mischwesens dargestellten mythischen Vogelwesens vereint sich eine vielschichtige Symbolik, die sich aus Elementen der „Volksreligion“, des Hinduismus und des Buddhismus speist. Die Verehrung eines Vogelwesens als Symbol der Sonne aber auch der Gewitterwolke im vorbuddhistischen Tibet wandelte sich durch ähnliche indische Vorstellungen, die sich mit dem Buddhismus in Tibet verbreiteten. Garuda-Darstellungen finden sich bereits in der altindischen Gandhara-Kunst. Im Volksglauben, wie auch in hinduistischen und buddhistischen Legenden sind diese, einem König unterstehenden Vogelwesen Feinde der ebenfalls hierarchisch organisierten, schlangengestaltigen und unheilbringenden Unterwelt- und Wasserwesen (Skt.: Nâga; tib.: kLu; mong.: Lu; chin.: Lung), auf die sie nach hinduistischen Legenden von dem mythischen Baum Kûtasâlmali herabstoßen. Nach den Wiedergeburtslegenden des Buddha (Jataka) war auch Shakyamuni in einer früheren Existinz ein Garuda-König, im chinesischen Buddhismus ist Jinchiniao, „Vogel mit goldenen Schwingen“, ein Synonym für Buddha. Der die Giftschlange zerbeißende Garuda versinnbildlicht den Sieg des Guten über das Böse. Dieses Symbol entwickelte der Buddhismus weiter, der Garuda steht nun für das mit Weisheit gepaarte Mitleid, die Schlange dagegen für die Feindschaft sowie den Haß, eines der drei Grundübel der buddhistischen Lehre. In der Eigenschaft als Überwinder des Hasses und Symbol des Sieges erscheint der Garuda als Begleitfigur auf vielen religiösen Darstellungen, z.B. als Thron- und Reittier des Buddha Amogasiddhi, des Buddhas des Nordens. Nach buddhistischen Legenden bekehrten sich die vom Garuda bedrängten Nâga zum Buddhismus und riefen Buddha um Hilfe an, der daraufhin Vajrapâni, den Regengott und Hüter der tantrischen Geheimlehren, zu ihrem Herrn bestimmte. Vajrapâni wird gleichzeitig Herr der Garuda, der „Könige der Gefiederten“. Eine seiner Erscheinungsformen nimmt selbst die Gestalt eines Garuda an. Nach Lehrmeinung verschiedener Schulen des tibetischen Buddhismus ist der Garuda zudem eine zornvolle Erscheinungsform des Urbuddha Vajradhara. In verschiedenen Varianten der im tibetischen Kulturgebiet veranstalteten Mysterienspiele tritt die Maske des Garuda als Begleiter der Schutzgottheiten der Lehre (Dharmapâla) sowie der Berggottheiten auf; auch der Garuda selbst gilt als Dharmapâla, der Gedeihen, Wachstum und Fruchtbarkeit aller Lebewesen fördert. Vor den von den Nâga gesandten Krankheiten schützt ein als Amulett getragenes, bedrucktes Papier, das einen die Schlange zerbeißenden Garuda mit einem runden, mit magischen Formeln beschrifteten Feld auf dem Bauch zeigt, das Bild des Garuda hält zudem Hagel von den Feldern fern.

In dem Erzählgut der Tibeter, Bhutaner und Mongolen hat der Garuda – häufig mit einem riesigen Adler auswechselbar – sein Nest auf dem Weltbaum, seine Jungen werden, wenn er auf Nahrungssuche gehen muß, von einer gewaltigen Schlange gefressen bzw. bedroht, bis ein Held diese Schlange tötet und die Jungen rettet. Der Garuda wird daraufhin zum Helfer des Helden, der ihn in der Bewältigung unlösbar erscheinender Aufgaben unterstützt.

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