Tuchintarsien aus Europa von 1500 bis heute

Autor/en: Dagmar Neuland-Kitzerow, Salwa Joram, Erika Karasek (Hrsg)
Verlag: Museum Europäischer Kulturen – Verlag Schnell & Steiner
Erschienen: Berlin und Regensburg 2009
Seiten: 328
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 49.80
ISBN: 978-3-7954-2217-2
Kommentar: Michael Buddeberg, Juni 2009

Besprechung:
Dem Kenner und Liebhaber orientalischer Textilien ist die Technik der Tuchintarsie durchaus bekannt, vor allem aus entsprechenden, zusätzlich mit aufwendiger Stickerei versehenen Arbeiten aus dem nordpersischen Rasht, aus türkischen Zeltfragmenten, wie sie sich im Czartoryski-Museum in Krakau erhalten haben oder aus dem „Gebetsteppich“, der zur berühmten Türkenbeute im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe gehört. Interessanterweise wird bei all diesen, zweifellos aus dem Orient stammenden textilen Arbeiten eine Herkunft der bei ihrer Herstellung verwendeten Wolltuche aus England diskutiert. So ist es kein Wunder, wenn auch bisher selbst in textilen Fachkreisen kaum zur Kenntnis genommen, dass die Technik der Tuchintarsie in Europa viele Jahrhunderte lang weit verbreitet war. Mit dem Katalogbuch „Tuchintarsien in Europa von 1500 bis heute“, das eine zunächst in Berlin (Museum Europäischer Kulturen, bis zum 05.07.2009) gezeigte und dann nach Wien (Österreichisches Museum für Volkskunde), Warschau und Leeds wandernde Ausstellung begleitet, liegt nun eine erste, zusammenfassende, wissenschaftliche Publikation zum Thema vor. 71 dieser Arbeiten – darunter auch der Karlsruher Gebetsteppich, eine weitere osmanische oder persische Tuchintarsie und eine Arbeit aus Rasht (MAK, Wien) – aus oft kleineren Museen und privaten Sammlungen zehn europäischer Länder sowie aus USA und Australien zeigen ein ungemein breites Anwendungsgebiet dieser textilen Technik von Hochzeits- und Kirchenbankkissen, einem königlichen Tischteppich für Queen Victoria (Nationalmuseum Dublin), einem Harlekinkostüm aus dem 18. Jahrhundert, Satteldecken und Wandbehängen mit ornamentalem Dekor und erzählenden Szenen. Allen gemeinsam ist die Technik der Tuchintarsie, die Verwendung gewalkter, verfilzter Wollstoffe, deren Machart und Stabilität es erlaubt, beliebig geformte Schnittkanten mosaikartig unter Verwendung unterschiedlichster Nähtechniken aneinander zu fügen. Es entsteht so im Idealfall eine völlig ebene Bildfläche mit farblich klar abgesetzten Umrissen, ein ideales Medium für konkrete Bildgestaltungen. So dominieren von den frühesten Stücken des 14. und 15. Jahrhunderts, die sich in schwedischen Kirchen erhalten haben, über die Jahrhunderte und alle geographischen Grenzen hinweg realistische und erzählende Bildinhalte mit Ranken, Blüten und Fabeltieren, Szenen aus dem Alten und Neuen Testament und weltliche Darstellungen aus dem zivilen und militärischen Bereich. Überraschend ist neben dem ersten Erscheinen dieser Arbeiten in Skandinavien im 14. und 15. Jahrhundert deren auffallende Konzentration im schlesisch-sächsisch-böhmischen und damit zum Teil auch preußischem Einflussbereich im 17. und 18. Jahrhundert und dann wieder in England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, um dann offenbar ganz in Vergessenheit zu geraten. In 14 Essays und teilweise umfangreichen Katalogbeiträgen zu einzelnen Objekten wird versucht, die vielen Rätsel um diese seltene textile Gattung zu lösen. Die Wertschätzung der Wolltuche ist hier ein Ansatzpunkt: Der hohe Herstellungsaufwand dieses textilen Materials war Anlass, auch die Reste, die etwa bei der Herstellung von Uniformen anfielen, zu verwenden. So waren es möglicherweise in Friedenszeiten arbeitslose Regimentsschneider, die einen guten Teil der bekannt gewordenen Arbeiten herstellten, was die Häufigkeit soldatesker und militärischer Szenen erklären könnte oder auch die Sonderform der dekorativ, dachziegelartig aus militärischen Achselklappen zusammengenähten , so genannten „Schulterklappenteppiche“. Andere waren gewiss Einzel- und Auftragsarbeiten wie die schon genannte Geschenkarbeit an Königin Victoria, hergestellt von einem Stephen Stokes in den Jahren um 1840 oder ein wohl der Erziehung preußischer Prinzen dienender Wandbehang aus dem Königshaus der Hohenzollern (um 1800, Deutsches Historisches Museum, Berlin). Die wenigen bisher bekannt gewordenen Stücke lassen natürlich viele Fragen offen, etwa die Ähnlichkeit der Motive auf frühen skandinavischen Stücken (Historisches Museum, Stockholm) mit denen auf Decken aus dem Wallis des 17. Jahrhunderts (Lötschentaler Museum, Kippel/Wallis und Schweizerisches Landesmuseum, Zürich). So versteht sich der Katalog als ein erster Versuch, eine seltene, kunstvolle und bildnerische Textiltechnik im Zusammenhang darzustellen. Das Buch ist damit eine hervorragende kultur- und textilwissenschaftliche Arbeit, eine wertvolle Anregung zu weiterer Forschung und ganz gewiss ein Anstoss für die Entdeckung weiterer, bislang unbekannter Tuchintarsien in privaten Sammlungen und unerforschten Museumsdepots.

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