Uzbek Embroidery in the Nomadic Tradition

Autor/en: Kate Fitz Gibbon, Andrew Hale
Verlag: Minneapolis Institute of Art
Erschienen: Minneapolis 2007
Seiten: 208
Ausgabe: Hardbound mit Schutzumschlag
Preis: US-$ 59.95
ISBN: 978-1-58886-094-1
Kommentar: Michael Buddeberg, August 2007

Besprechung:
Die Bedeutung und die Herkunft der Muster bleiben oft rätselhaft. Stark abstrahierte pflanzliche, vor allem aber tierische Motive wird man allemal anzunehmen haben. Mal glaubt man, das symbolträchtige Horn des Steinbocks zu erkennen, den todbringenden Schwanz des Skorpion oder die scharfe Klaue des Falken, die zu unabhängigen formalen Elementen wurden und die, zusammengesetzt und vervielfältigt, medaillonartige Motive formen. Die Rede ist hier nicht von den Stickereien der Kaitag, wie man ohne weiteres meinen könnte, sondern von den Ilgich usbekischer Nomaden. Diese zentralasiatischen Stickereien sind eine nur wenig bekannte textile Kunstform, die aber trotz der weit auseinanderliegenden Entstehungsorte in ihrer Verwendung, vor allem aber ihrer formalen Vielfalt und in ihrem künstlerischen Anspruch mit den Kaitag-Stickereien erstaunlich Vieles gemein haben. Ilgich sind relativ kleine, fast immer quadratische, keinem praktischen Gebrauchszweck dienende Stickereien der turkstämmigen Lakai und Kungrat. Diese ursprünglich nomadischen Stämme leben im Herzen von Zentralasien, dort, wo der Amu-Darja von den Höhen des Karakorum, Pamir und Tien Shan kommend durch das Grenzgebiet zwischen dem südlichen Tadschikistan, Afghanistan und dem Südosten Usbekistans fließt. Die Lakai und Kungrat sind heute – nicht ihrer Neigung, sondern politischen Zwängen folgend – überwiegend sesshaft geworden. Sie lebten jahrhundertelang in Jurten, deren Gebrauch, Einteilung und Ausstattung alten Traditionen folgte. Dazu gehörte es, die Jurte an repräsentativer Stelle mit einem oder zwei Zeltbehängen, eben diesen Ilgich zu schmücken. Ilgich waren der wichtigste Teil der Aussteuer der usbekischen Braut, sie waren der Ausdruck des Könnens und der Kreativität junger Frauen, Meisterleistungen individuellen, genuinen und künstlerischen Schaffens. Fast 60 dieser in ihrer Vielfalt und Schönheit außergewöhnlichen Stickereien hat das Ehepaar Jack und Aviva Robinson zusammengetragen und mit anderen usbekischen Stickarbeiten dem Minneapolis Institut of Art zum Geschenk gemacht. Die Ausstellung dieser Sammlung (bis zum 26.August 2007) und das dazu herausgegebene Buch sind ein angemessener Dank für dieses noble Geschenk. Als Autoren konnten mit Kate Fitz Gibbon und Andrew Hale die ersten Autoritäten für dieses textile Fachgebiet gewonnen werden, die schon in dem großartigen Katalog der Goldmann Collection „Ikat“ ihre Kenntnisse der Region unter Beweis gestellt haben. Waren es dort die Verhältnisse in den städtischen Oasen Buchara, Samarkand und anderen, die Vielfalt von Ethnien und Einflüssen, die die Entstehung und Herstellung der Ikatstoffe begünstigten, ist es hier die uralte nomadische Lebensform, sind es die Mythen und Mysterien von Menschen, die seit jeher von und mit der Natur und ihren Erscheinungen leben, die ihren Gefahren ausgesetzt sind und sich von ihren Schönheiten beeinflussen lassen. So befasst sich ein einleitendes Kapitel sehr eingehend mit der Geschichte der Tierzuchtnomaden Usbekistans von ihrem Aufbruch aus der zentralasiatischen Steppe im 13. Jahrhundert bis zur erzwungenen Sesshaftigkeit in den dunklen und schwierigen Zeiten unter sowjetischer Herrschaft. In all dieser wechselvollen, von Wanderung und immer wieder von Fremdherrschaft geprägten Geschichte erwies sich die textile Tradition der Pferde züchtenden Lakai und der Kungrat, die vor allem Schafe hielten, als das konstante Symbol kultureller Identität dieser Nomadenvölker. Dieser Tradition widmen sich die Autoren im zweiten Kapitel. Hier werden vor allem die Bedeutung und der Gebrauch von Textilien in den Zeremonien und Ritualen des Werdens und des Vergehens hervorgehoben. Geburt, Heirat und Tod, die Ausstattung der Wiege, das komplizierte Ritual nomadischer Hochzeitsbräuche und die Zeremonien beim Begräbnis waren und sind noch heute stets von Textilien begleitet. Breites Wissen und Erkenntnis eigener Feldforschung werden ergänzt durch Informationen aus kaum bekannter und schwer zugänglicher Literatur russischer Forscher und Reisender. Ein weiteres Kapitel untersucht die Motive, den Stil und die technischen Charakteristika der Textilien der Lakai und Kungrat, erarbeitet Kriterien der Zuordnung zu den beiden Stämmen und versucht, die Wurzeln dieser textilen Tradition und ihrer Muster zu ergründen. Fitz Gibbon und Hale sehen den Ursprung der in den Ilgich verwandten Muster in der uralten Kunst der Steppe. Schon vor tausenden von Jahren gab es dort abstrakte tierische und pflanzliche Formen, gab es vor allem den Tierstil, jene auf klare Grundformen vereinfachten aber doch ihre Dynamik beibehaltenden, spannungsgeladenen Tierkörper. Auch die Muster auf den Stickereien basieren auf solchen abstrakten Formen, die aus der Natur abgeleitet sind, die mit kraftvollem Rhythmus und starken Linien arbeiten und mit dem Kontrast zwischen leuchtenden Farben und den Negativformen des Raumes dazwischen. Und hier schließt sich der Kreis. Liegen dort in der Steppe auch die Wurzeln der Kaitag-Ornamentik? Schon Chenciner hat in seinem Kaitag-Buch 1993 auf die Verwandtschaft mancher Kaitag-Symbole mit abstrakten Elementen skythischer Filze aus den Gräbern von Pazyryk hingewiesen, diesen Gedanken aber nicht weiter verfolgt. Es scheint mir wert, darüber nachzudenken. Das Schlusskapitel schließlich behandelt städtische Arbeiten aus den Oasenstädten Sharisabs und Kitab, die, wenn auch in derselben Region, so doch in einem vollkommen anderen Umfeld entstanden sind. Kleine und große Wandbehänge, Susanis, oft gebietstypisch auf farbigem Grund, zeigen den vollkommen unterschiedlichen Stil in Stickerei und in den dargestellten Motiven. Steht bei den nomadischen Stickereien ihr schamanistischer Hintergrund, ihre Amulettfunktion und ihre Stammesidentität stiftende Gestaltung außer Frage, so sind die Susanis vordergründig von Gärten, Blumen und Pflanzen inspirierte Ausstattungstextilien städtischer Gesellschaften, schön und perfekt zwar, aber ohne die Tiefe und Ursprünglichkeit ihrer nomadischen Pendants. Und so steht am Ende die Frage, ob nicht manche oder gar viele der im 19.Jahrhundert entstandenen Susanis professionell für den Export hergestellte Arbeiten sind. Die Ilgich waren es gewiss nicht.

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