Kökboya – Naturfarben und Textilien, Eine Farbenreise von der Türkei nach Indien und weiter

Autor/en: Harald Böhmer
Verlag: Remhöb Verlag
Erschienen: Ganderkesee 2002
Seiten: 300
Ausgabe: Fester illustrierter Einband
Preis: EUR 129
ISBN: 3-93671 3-00-6
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 2002

Besprechung:
„Bei Nacht sind alle Katzen grau – und alle Teppiche und Textilen auch“. Oder: „Elektromagnetische Wellen rufen dann, wenn sie in einem bestimmten Wellenbereich liegen und ins Auge gelangen, schließlich Farbempfindungen im Gehirn hervor.“ Zwei ganz unterschiedliche Ansatzpunkte zur Beantwortung der Frage: Was sind eigentlich Farben, wie entstehen Farben, welche Bedeutung haben sie und warum ist rot rot? Die wissenschaftliche Antwort mag den Farbenfreak, den Liebhaber anatolischer Dorfteppiche mit ihren glühenden warmen Farben etwa, oder den Sammler von Nolde-Aquarellen schockieren: Farben sind nicht Wirklichkeit sondern bloße Empfindungen. Der Satz mit den grauen Katzen bringt es klar zum Ausdruck: Ohne Licht keine Farben. Licht aber kann sehr unterschiedlich sein. Das Licht einer Kerze, Halogen- oder Neonlicht beeinflusst das Farbempfinden, ja selbst das Sonnenlicht ist von sehr unterschiedlicher Qualität. In der sauberen und dünnen Hochlandatmosphäre Anatoliens oder gar auf dem tibetischen Plateau wirken Farben durchaus anders als unter dem smogverhangenen Himmel von Istanbul, Hongkong oder London. Schon zwischen Morgensonne und Abendsonne besteht ein gewaltiger Unterschied – jeder Fotograf weiß das. Ein umfängliches Kapitel in Böhmers lange erwarteten Buch über Naturfarben ist daher dem Phänomen Farbe aus dem Blickwinkel von Physik, Chemie und Biologie gewidmet und – da es Farbe, wie wir lesen, nicht wirklich gibt – auch der Physiologie, Psychologie und Ästhetik. Es ist dies ein knapper, verständlicher und unentbehrlicher Einstieg zu der faszinierenden Farbenreise von der Türkei bis nach Indien und weiter, auf die uns Harald Böhmer mitnimmt. Und wer könnte für eine solche Reise ein besserer Begleiter sein als Harald Böhmer, in dessen Person sich der Sammler, der Reisende und der Wissenschaftler vereinigen, gepaart mit Neugier, akribischer Sorgfalt, didaktischem Geschick und einer unbändigen Liebe zum Thema. Natürlich wird auch das Grundmaterial der Textilien besprochen, Fasern pflanzlicher oder tierischer Herkunft, das Verfahren, wie aus einer Faser ein Textil wird, vom Spinnen über das Weben bis zum Knüpfen, Techniken der Dekor- und Musterbildung und schließlich die Geschichte der Färbungsanalyse, ohne die dieses Buch über Naturfarben gar nicht denkbar ist. Der Schwerpunkt liegt dann aber bei der Darstellung der Färbepflanzen, es mögen an die hundert sein, ausgehend von der Türkei bis nach Indonesien, Laos und Malaysia, aber auch Marokko, Mexiko und Westchina, Tunesien und Usbekistan bis zu dem Land, das auch heute noch über eine reiche Färbetradition verfügt, Indien. Zu jeder Färbepflanze werden Heimat und Standort, ihre kulturgeschichtliche Bedeutung, die färbewirksamen Inhaltsstoffe, die anwendbare Färbemethode und schließlich Eignung und Lichtechtheit behandelt, eine unerschöpfliche Fundgrube für jeden Liebhaber von Naturfarben. Getreu dem Thema Kökboya, dem türkischen Wort für Wurzelfarben, das aber für Naturfarben schlechthin steht, ob sie nun aus Wurzeln gemacht worden sind, oder aus Blüten, Blättern, Knollen oder Samen oder schließlich aus Insekten, gibt es Kapitel auch über die Färbeinsekten Kermes, Lac und Cochenille sowie über Purpur und Purpurschnecke. Der weltweit konkurrenzlosen Färbepflanze für blau, dem Indigo, ist ebenfalls ein eigener Abschnitt gewidmet, zu Recht, denn keine Färbepflanze kann auf auf eine derart interessante und lange Geschichte zurückblicken, wie das Indigo, keine hat je eine solche wirtschaftliche Bedeutung erlangt und bei keiner sind die chemischen Vorgänge so interessant und ist der Prozeß des Färbens so kompliziert. Der indigolackierte Jaguar von Henri und Denise Lambert mag ein Kuriosum sein, die Jeansmode und die industrielle Indigoherstellung sind es nicht. So nimmt Böhmer auch zu der Streit- und Glaubensfrage Stellung, ob es Unterschiede zwischen Pflanzen- und Synthese-Indigo gibt, eine Frage, die bis heute wissenschaftlich nicht geklärt ist. Der Streit darf, so Böhmer, also weitergehen. Wie hier bei dem Expertenstreit um die Erkennbarkeit natürlicher oder synthetischer Indigofärbung besticht das Buch durch die sachliche, kompetente und zugleich lockere und sehr persönliche Behandlung der Themen. Das vermag nur ein Autor, der, wie Harald Böhmer mit Leib und Seele in der Materie steckt. Das Buch besticht weiter durch seine opulente Illustration mit hunderten von Farbabbildungen, nicht nur der Färbepflanzen, Drogen und Färbemuster, sondern auch von Textilien aus aller Welt, von der Seidenproduktion, von den Wollieferanten Schaf, Ziege und Yak bis zur tibetischen Antilope und vom Spinnen und Weben. Karten, Tabellen, Zeichnungen, Webstrukturen und, wo nötig, chemische Formeln runden das reiche Anschauungsmaterial ab. Teppichhändler, Journalisten, Textilexperten, Museumskuratoren, Pflanzenexperten, Naturfarbenfreaks, Anthropologen und Sammler aus aller Welt werden dieses neue Standardwerk über Naturfarben und Textilien besitzen müssen.

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