Anatolia – Gates to Heaven – Himmelspforten

Autor/en: Rainer Kreissl
Verlag: Hirmer Verlag
Erschienen: München 1998
Seiten: 176
Ausgabe: Hardcover
Preis: DM 78.–
Kommentar: Michael Buddeberg, Oktober 1998

Besprechung:
Es ist sehr schwer, die Sammlung Kreissl richtig einzuordnen. 1995 sah man in Prag 100 anatolische Kelims und Teppiche aus der Sammlung, die weit über 1000 Stücke umfassen soll. Eine ganze Anzahl ungewöhnlicher Exemplare hat damals so manche kontrovers geführte Diskussion entfacht. Nun können in Prag und im zweiten Sammlungskatalog weitere 120 Teppiche und Kelims betrachtet, bewundert und analysiert werden, und im Vorwort von Jana Souckova, der Direktorin des Prager Naprstek-Museums der Asiatischen, Afrikanischen und Amerikanischen Kulturen, liest man, daß die Sammlung in den drei Jahren seit ihrer ersten Präsentation noch umfangreicher geworden ist. Ohne jeden Zweifel also liegt die Bedeutung der Sammlung in ihrer Größe. Und genau hier setzt die viel gehörte Kritik an: Die schiere Menge ist beim Sammeln von Kunst und sei es auch nur Volkskunst kein Wert an sich. Die große Zahl senkt zwangsläufig Qualität und Niveau. Das kann gar nicht anders sein und auch im neuen Katalog finden wir neben einigen Klassikern, neben ungewöhnlichen und wunderschönen Teppichen auch ganz und gar uninteressante Stücke. So meint man zunächst. Hier aber ist der Schlüssel für den Wert und die wahre Bedeutung der Sammlung Kreissl zu finden. Es ist eine einzigartige Studiensammlung für anatolische Knüpf- und Weberzeugnisse aus vier Jahrhunderten, von der bis jetzt gerade mal 15 oder 20 Prozent veröffentlicht sind. Wir alle wissen genau, welche Kataloge und Bücher aufzuschlagen sind, um die schönsten, ältesten, kostbarsten und kunstvollsten anatolischen Kelims und Teppiche zu finden. Bei Kreissl aber finden wir auch den anderen anatolischen Teppich und wir staunen über die nahezu unendliche Vielfalt, wie sich die immer wieder gleichen Musterelemente zu stets neuen Teppichen zusammenfügen. Wo andere Sammler auf der Suche nach der Schönheit und dem reinen Kunstwerk nur die oberste Sahne abschöpften, da hat Rainer Kreissl schon vor Jahrzehnten manches vermeintlich unansehnliche, oft nur fragmentarisch erhaltene, manchmal auch nur schwer einzuordnende Stück volkstümlichen Schaffens seiner Sammlung eingereiht und so eine Sammlung aufgebaut, die, wie Jana Souckova in ihrer Einleitung bestätigt, eine „unerschöpflich reiche Unterlage für die Erforschung der Entwicklung der Teppichschöpfung in Anatolien öffnet.“ Thema des Kataloges ist der Gebetsteppich und damit ist vorgegeben, daß wir Teppiche aus Mucur, Ladik, Melas, Gördes und aus weiteren klassischen Herkunftsgebieten, meist in mehreren Varianten finden. Wir finden aber auch das seltene „re-entrant-“ oder Schlüsselloch-Motiv in einem bezaubernden kleinen, sehr frühen Dorfteppich (Nr.1) und dann wieder in Gebetsteppichen den 19. Jahrhunderts. Der Begriff Gebetsteppich wird von Kreissl sehr weit gefaßt, so daß er uns auch einen Balkenkreuz-Teppich (Nr. 103) zeigen kann, der dem McMullan-Stück allein im Zustand unterlegen ist, sowie einen höchst bemerkenswerten Bergama (Nr.99) mit wuchtigem, plakativen Zentralmedaillon und von Oktogonen umschlossenen Memling-Göls als Streumuster. So bietet dieser zweite Band der Sammlung Kreissl mehr Entdeckungsmöglichkeiten als manches andere Teppichbuch und es bleibt zu wünschen, daß weitere Bände diese Studiensammlung nach und nach voll erschließen – dann aber bitte mit Strukturanalysen.

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