Anatolia – Kilims und andere Flachgewebe aus Anatolien

Autor/en: Ignation Vok, Udo Hirsch
Verlag: Edition Ignatio Vok
Erschienen: München 1997
Ausgabe: Leinen
Preis: DM 200.–
Kommentar: Michael Buddeberg, Juli 1997

Besprechung:
Die Trilogie der Textilsammlung von Ignatio Vok findet mit diesem Band über anatolische Kelims ihren krönenden Abschluß. Der üblicherweise nur in der Literatur benutzte Begriff der Trilogie als eines aus drei selbständigen, gleichartigen, stofflich zusammengehörigen Teilen bestehenden literarischen Werkes (Definition nach Brockhaus) drängt sich bei einer Gesamtschau auf die Vok Collection geradezu auf. Suzanis, persische und kaukasische Flachgewebe und nun anatolische Kelims. Trotz der Jahresabstände, in denen die Sammlung in natura und als Buch vorgestellt wurde darf man nicht vergessen, daß Ignatio Vok die drei unterschiedlichen Gruppen nicht nacheinander sondern parallel gesammelt hat und daß ein einheitliches übergeordnetes Konzept dahinter steht. Dies Konzept ist die künstlerische Kraft und Schönheit, die aus dem idealen Zusammenspiel von Farbe und Form entstehen kann, der hohe Qualitätsanspruch eines anspruchsvollen Sammlers und die ästhetische Schulung eines Architekten mit offenen Sinnen für den Zeitgeist. Und wie bei jeder gelungenen Trilogie kommt der Höhepunkt im dritten Akt. „Anatolia“ ist der beeindruckendste Teil der Sammlung Vok, nicht etwa weil die anatolischen Kelims schöner, besser oder älter sind als die früher gesehenen Textilien sondern weil sie über ihre Bedeutung als Kunstwerke hinaus eine inhaltliche Aussage haben und Träger geistiger Werte sind. Der einleitende Beitrag von Udo Hirsch über den anatolischen Kultkelim öffnet ein Fenster in einen wichtigen Abschnitt der Menschheitsund Kultur-, oder besser: Kultgeschichte und verankert den Kelim als religiösen Bedeutungsträger in prähistorischer Zeit. Die zunächst eher überraschende Aussage, daß die großgemusterten Kelims Anatoliens oft über Jahrhunderte hinweg keine wesentlichen Änderungen erfahren haben, steht sie doch im Widerspruch zur Theorie vom Verfall und von der Degeneration der Muster durch bloßen Zeitablauf, trifft für diese seit jeher und bis heute nur bei besonderen Anlässen – Geburt, Hochzeit, religiöse Feste und vor allem Beerdigung – benutzten Textilien sicher zu. Der Ursprung der Motive im Kult der Muttergöttin, die Rückführung der wichtigsten Kelimmotive auf frühe Fruchtbarkeitssymbole und das Dominat der Frauen im frühen kultischen Leben der Menschheit im vorderen Orient können als wissenschaftlich gesichert angesehen werden. In der Abgeschlossenheit Anatoliens hat sich dieser von Frauen zelebrierte Muttergöttinenkult über Jahrtausende bis in die byzantinische Zeit erhalten. Christentum und vor allem Islam drängten die Frau dann gesellschaftlich in den Hintergrund, eine Ursache mehr, daß in der abgeschlossenen Welt der Frauen Frauenkulte und Frauenkunst ein Eigenleben führen und sich besonders gut erhalten konnten. Die ethnische Vielfalt Anatoliens schließlich ist verantwortlich für eine entsprechende Vielfalt an gruppenspezifischen Motiven, Kompositionen und Farben, die in der Gruppe – Familie, Dorfgemeinschaft, Region – von Frauen über viele Generationen hinweg tradiert wurden. So entstand in Anatolien eine Tradition und blieb an manchen entlegenen Orten bis in unsere Tage erhalten, die Tradition nämlich, eine Vielfalt von unterschiedlichen Kultkelims herzustellen, zu denen es keine vergleichbaren Stücke aus anderen Ländern und Regionen Zentralasiens oder aus der islamischen Welt gibt. Die durch den Islam institutionalisierte Idee des Stiftens kommt hinzu. Der ohnehin nur zu besonderen Anlässen benutzte Kultkelim begleitet den Verstorbenen auf dem Weg vom Dorf zum Friedhof und gelangt dann als Stiftung in die Moschee. So blieben in Kirchen und Klöstern, vor allem aber in den Moscheen Anatoliens oft Generationen dieser großgemusterten Kultkelims erhalten. Das alles ist nicht bloße Theorie sondern Udo Hirsch hat dies in vielen Jahren Feldforschung gesichert, er hat Generationen anatolischer Frauen befragt und die Kelims ihrer Ur-und Urgroßmütter als untere Lagen in der Dorfmoschee gesehen. Die These, daß ein Kelim mit einem gruppenspezifischen Kultmuster aus dem späten 19. Jahrhundert stammen aber auch schon Jahrhunderte früher gewebt sein kann, wird somit trefflich belegt. Und hier trifft sich Udo Hirsch mit dem Sammler Ignatio Vok. Für Vok spielt das Alter seiner Stücke keine Rolle, auch nicht deren Inhalte; was zählt ist allein die Harmonie der Formen und Farben. Doch auch Vok kommt an der Bedeutung seiner Kelims nicht vorbei. Das Zeitlose an diesen Kelims, – so schreibt er selbst über seine Sammlung -, was sie in eine Reihe stellt mit anderen großen Kunstwerken, sei es aus der Antike oder der zeitgenössischen Kunst, ist der Ausdruck geistiger Werte und Vorstellungen in einer künstlerisch überzeugenden Form. Für die Sorgfalt in Konzeption und Herstellung, für Typographie und Druck, für die persönliche Note eines großen Sammlers, die nicht nur seine Sammlung sondern auch das Buch prägt, gelten alle die Superlative, die in den Besprechungen der ersten beiden Bände zu finden sind. Kein Zweifel: Die vollständige Trilogie gehört in jede Textilbibliothek.

Print Friendly, PDF & Email