Geschichte der deutschen Textilkunst – Vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart

Autor/en: Leonie von Wilckens
Verlag: C.H.Beck
Erschienen: München 1997
Seiten: 292
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: DM 248.–
Kommentar: Michael Buddeberg, April 1998

Besprechung:
Über der Schönheit und Vielfalt orientalischer Textilien, über der Faszination der textilen Kultur der Nomaden Asiens, vergißt man leicht und gerne, daß auch Europa, der Mittelmeerraum, Frankreich und schließlich Deutschland eine alte textile Tradition haben. Leonie von Wilckens, bekannt bereits durch das Standardwerk „Die textilen Künste – von der Spätantike bis um 1500“ legt mit dem jüngst erschienenen Band die erste Gesamtdarstellung der deutschen Textilkunst vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart vor. Behandelt wird der ganze deutsche Sprachraum also auch das Elsaß, die deutsche Schweiz, Österreich, Böhmen, Schlesien, Pommern sowie Ost- und Westpreußen. Ein wahrlich weites Feld, und der Vielfalt der Landschaften, Volksgruppen und ständig wechselnden politischen Grenzen entspricht die Vielfalt der vorgestellten Textilien und textilen Techniken. Dabei, das muß immerhin gesagt werden, fehlen die spektakulären Höhepunkte. Den Seidenwebern von Lyon oder Venedig hatte der deutschsprachige Raum nichts entgegenzusetzen, sieht man mal von der kurzlebigen Blüte dieser Textilkunst ab, die glaubensflüchtige Hugenotten im Berlin und Krefeld des 18. Jahrhunderts entfachten. Auch die Bildwirkerei erreichte in Deutschland nie die technische und künstlerische Qualität ihrer flämischen Vorbilder. Hier sind vielleicht nur die beiden Münchner Teppich-Manufakturen zu erwähnen, die erste gegründet 1615 von Herzog Maximilian I und die zweite 1718 durch Kurfürst Max Emanuel von Bayern, aber auch hier waren Meisterwirker aus Brüssel und Paris verantwortlich für die hohe Qualität. Deutsche Textilkunst blühte mehr im Verborgenen, im Unscheinbaren, oft im volkstümlichen Bereich. Leinendamaste aus Augsburg und Danzig mit biblischen Szenen, die berühmten Vierländer Tücher, deren wahrer Entstehungsort bis heute nicht geklärt ist, Zeugdruck mit Dürerschen Motiven oder die geknüpften Bauernteppiche aus Masuren, Handarbeitstechniken, Glasperlenstickerei, Stickmustertücher, Modelbücher, kleine Juwelen der Volkskunst. Leonie von Wilckens entfaltet nicht nur ein Kaleidoskop textiler Kunst im Herzen Europas sondern sie stellt sie in den großen historischen Rahmen. Diese historische Sicht ist auch verantwortlich für die Zweiteilung der Darstellung, von etwa 1500 bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert und von 1800 bis heute. Der Beginn dieser Abschnitte ist jeweils durch „Schwellenzeiten“, durch Perioden des Übergangs geprägt, durch einen Aufbruch in gänzlich neue Zeiten, vom Mittelalter in die Neuzeit und, am Anfang des 19. Jahrhunderts, in die neueste Zeit. An der Schwelle vom Mittelalter in die Neuzeit wurde nicht nur der Buchdruck erfunden, begannen nicht nur die großen geographischen Entdeckungen sondern Natur- und Geisteswissenschaften – Luther, Kopernikus und Galilei sind hier zu nennen – bewirkten eine Wandlung, die wohl auch den Menschen jener Zeit bewußt war und die in einer neuen Freiheit der Künste, auch der Textilkunst, Ausdruck fand. Die nächste Schwellenzeit beginnt mit Revolutionen, der französischen und der industriellen, wobei die letztere besonders eng mit dem textilen Schaffen verbunden ist. Mechanisches Spinnen und Weben stehen am Anfang des Industriezeitalters und der durch dieses ausgelösten sozialen Revolution. Der Aufstand der schlesischen Weber und das Denkmal, das ihnen Gerhard Hauptmann mit seinem Drama gesetzt hat, sei hier als ein Beispiel für die historische Dimension textiler Geschichte genannt. Die industrielle Revolution bringt aber auch eine Rückbesinnung auf die mittelalterliche Textilkunst und auf kunsthandwerkliche Qualität. Historismus, Jugendstil und schließlich das Bauhaus, dessen Propheten im Sinne der Gleichberechtigung allen künstlerischen Schaffens die moderne Textilkunst begründeten. Sie schufen damit die Voraussetzungen für freie textile Objekte, mit denen dieses Buch endet. Endet damit auch die neueste Zeit? Stehen wir wieder an einer Schwelle, an einem neuen gewaltigen Umbruch in das vom Computer bestimmte dritte Jahrtausend, in eine verwandelte, heute noch kaum faßbare Wirklichkeit? Leonie von Wilckens Überblick über 500 Jahre deutscher Textilkunst ist spannende Lektüre und – wie schon ihr früheres Textilbuch – zweifellos ein Standardwerk. (Leonie von Wilckens ist vor wenigen Monaten in München gestorben

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