Schamanismus in Tuva

Autor/en: Jan van Alphen
Verlag: Museum für Völkerkunde
Erschienen: Wien 1998
Seiten: 148
Ausgabe: Broschiert
Kommentar: Michael Buddeberg, November 1998

Besprechung:
Der in deutscher Sprache schreibende tuvinische Dichter Galsan Tschinag meint, daß Tuva, das im Herzen des asiatischen Kontinents liegende Land zwischen Mongolei und Sibirien, Teil des Altai-Gebirges, drei wichtige Beiträge zur Weltkultur geleistet hat: Den Kehlkopf- oder Obertongesang, das kunstvolle Vortragen von Epen und das Schamanentum. Auch wenn das Schamanentum heute als ein weltumspannendes Phänomen anerkannt ist, ist doch Tuva das Land, in dem sich schamanistische Riten und Traditionen seit alter Zeit bis heute erhalten haben, beziehungsweise nach dem Untergang des Sowjetreiches heute kraftvoll und spontan wiedererstanden sind, das Land, in dem der Schamanismus gar Staatsreligion ist. Eine Ausstellung (bis 5.April in Wien und vom 30. Mai bis 19. September im Überseemuseum in Bremen) und ein dazu erschienenes Katalogbuch widmen sich diesem Thema. Zahlreiche attraktive Exponate, Amulette, Trommeln und Spiegel, zahlreiche pracht­volle und phantasiereiche, vollständige Schamanengewänder, mythische Tierfiguren aus skythischer Zeit, geheimnisvolle Gegenstände aus Leder, Federn, Fell und Stoff, Sitz des Bären-, Eichhörnchen-, Raben- und anderer Geister, geben einen Einblick in die materielle Kultur des Schamanentums und lassen etwas vom Geheimnis und Wesen dieser Naturreligion erahnen. Aber eben nur erahnen denn eine Religion kann sich nicht durch die Präsentation ihrer Artefakte erschließen. So ist der zur Ausstellung erschienene Katalog mit seinen grundlegenden Essays ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis nicht nur der Ausstellung sondern des weltweit wachsenden Interesses am Schamanismus, von dem die Tuviner glauben, er sei die Mutter aller Religionen, aus deren elementaren religiösen Gedanken die Hauptreligionen der Menschheit entstanden sein sollen: Buddhismus, Christentum und Islam. In sorgfältigen Beiträgen werden die möglicherweise mehrere hunderttau­send Jahre zurückreichenden Wurzeln des Schamanismus beleuchtet, werden die Techniken der Schamanen, die Technik des Heilens und der Ekstase, der Umgang mit Geistern, der Zugang zur spirituellen Welt untersucht. Bei aller Faszination und allem fachlichen Engagement bleiben aber letztendlich doch mehr Fragen offen als beantwortet werden: Das Phänomen das Schamanismus scheint sich dem wissenschaftlichen Zugang der westlichen Gesellschaft zu entziehen. Immerhin, die Grundüberzeugung des Schamanismus, daß alle sichtbaren und unsichtbaren Phänomene ein­schließlich der Vegetation, der Tiere, der Felsen, des Regens, des Donners, des Blitzes, der Sterne und der Planeten, ja selbst der von Menschenhand hergestellten Gegenstände, wie Werkzeuge und Behausungen, belebt sind, Seele besitzen, lassen den Schamanismus als ein zutiefst ökologisches Glaubenssystem erscheinen. Damit nicht genug: Das Buch ist auch ein Dokument eines heute nahezu unbekannten, in einer nicht mehr spirituell sondern ganz materialistisch ausgerichteten Welt ums Überleben kämpfenden kleinen Volkes, das einmal bessere Zeiten gesehen hat. Kein Zweifel, die Tuviner sind Nachfahren der geheimnisvollen Skythen, die wegen ihrer ursprünglichen Kraft schon Herodot beunruhigt haben. Und im vorchristlichen Jahrtausend, als die natürlichen und klimatischen Bedingungen im Altai weit weniger extrem waren als heute, blühte dort eine machtvolle Reiterkultur, die wir aus den bedeutenden Funden der Kurgane von Arzhan, Kazylgan und Pazyryk kennen. Vollendete kleine Kunstwerke, die Bronze eines Panthers, dessen Pfoten sich zu einem Kreis schließen, ein Kamm mit der Darstellung eines liegenden Widders, ein Pferd in unnachahmlich dynamischer Darstellung sind Beispiele des skythisch-sibirischen Tierstils, der uns heute so faszi­niert. Und noch ein Schritt zurück: Petroglyphen, Felszeichnungen in der Saganschlucht, am linken Ufer des Jenissei, am Fuße des Aldy-Mozaga-Massivs, an einem Ort namens Mugur-Sargel, in­zwischen durch einen Stausee unwiederbringlich unter Wasser, zeigen anthropomorphe Gesichter, rituelle Masken aus der Bronzezeit, Abbilder von Geistern verstorbener Vorfahren, wie wir sie heute noch am Kopfschmuck von Schamanen wiederfinden. Damit schließt sich der Kreis, und wer immer an der Kunst und den Mythen Zentralasiens Interesse hat, wird an diesem Katalog seine Freude haben.

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