View of the Pinnacle – Japanese Lacquer Boxes – The Lewis Collection of Suzuribako

Autor/en: Edmund J. Lewis, Stephan Little, John Stevens
Verlag: University of Hawai`i Press
Erschienen: Honolulu 2011
Seiten: 256
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: USD 80,00
ISBN: 978-0-615-50509-1
Kommentar: Michael Buddeberg, April 2013

Besprechung:
Ähnlich wie in China und Korea liegen auch in Japan die Anfänge der Lackkunst im Dunkel der frühen Geschichte. Archäologische Funde lassen vermuten, dass japanische Handwerker schon im Neolithikum den vom Lackbaum Urushi gewonnenen Saft zum Haltbarmachen, zum Härten und schließlich auch zum Dekorieren von Gegenständen verwendet haben. Ob aber, wie so vieles andere auch, die Impulse zur Entwicklung einer anspruchsvollen Lackkunst von China ausgingen, ist bis heute nicht wirklich geklärt, denn den Urushi-Baum gibt es hier wie dort. Vermutlich war es aber wirklich so, dass die entscheidenden handwerklichen und gestalterischen Anregungen zur Entwicklung der bis heute lebendigen Tradition japanischer Lackkunst den Kontakten mit chinesischem und koreanischem Festland zu verdanken sind, die um das sechste Jahrhundert nicht nur zur Einführung des Buddhismus, sondern auch zu einer umfassenden Rezeption der damaligen Festlandskultur führten. Mit der Lackkunst geschah dann genau das, was sich auch in anderen Künsten und Fertigkeiten – man denke hier nur an die Web- oder die Schmiedekunst aber auch an Porzellan und Keramik – immer wieder in der Geschichte Japans wiederholt hat. Es ist ein Prozess, der mit dem Entlehnen und dem Kopieren fremder Einflüsse und Verfahren beginnt und der in die Entwicklung ganz eigener Stile und verfeinerter Techniken mündet, die in Ausdruck und Perfektion das ursprüngliche Vorbild weit hinter sich lassen. Ein vorzügliches Beispiel hierfür sind die aus Lack gefertigten Behältnisse für die Aufbewahrung der zur Kalligraphie benötigten Utensilien, japanisch suzuribako genannt. Der französische Kunsthistoriker Louis Gonse (1846-1921) hielt diese suzuribako gar für die außergewöhnlichsten Werke, die je von Menschenhand geschaffen wurden, stellen sie doch eine einzigartige und nirgendwo sonst anzutreffende Verbindung von Poesie, Kalligraphie und kunsthandwerklicher Fertigkeit dar. Nicht weniger als 82 dieser Meisterwerke aus dem 14. bis zum 20. Jahrhundert haben der amerikanische Arzt Edmund J. Lewis und seine Frau Julia in mehr als 25 Jahren gesammelt und stellen sie nun zusammen mit Stephen Little von Los Angeles County Museum of Art und dem Kalligraphie-Experten John Stevens in einem wunderschön gestalteten Katalog vor, der nicht nur die äußere Schönheit und Perfektion dieser Lackobjekte zeigt, sondern durch seine Essays eine Einführung in den oft versteckten literarischen Gehalt dieser suzuribako gibt und die Bedeutung der Kalligraphie in der japanischen Kultur erläutert. Poesie und Kalligraphie erhielten die entscheidenden Impulse von dem buddhistischen Mönch, Gelehrten und Künstler Kukai (774-835), der nach einem Studienaufenthalt in China den esoterischen oder Shingon-Buddhismus nach Japan brachte und bis heute als Begründer dieser buddhistischen Tradition verehrt wird. In der Heian-Zeit (794-1185) erlebte die aristokratische Kultur Japans ihre erste Blüte. Poesie und deren kalligraphische Niederschrift gewannen den bis heute bestehenden hohen Stellenwert in der japanischen Kultur und beanspruchten im Leben der Adeligen und Samurai wesentliche Teile ihres täglichen Lebens. In dieselbe Zeit werden auch die Entwicklung einer verfeinerten Lackkunst und die Herstellung der ersten suzuribako datiert. In dieser Verbindung einer praktischen Funktion mit einem, von dem unzertrennlichen Duo Poesie und Kalligraphie bestimmten Bedeutungsgehalt in handwerklich erlesener Ausführung kann man die suzuribakos durchaus als die bedeutendste Verkörperung der wesentlichsten Werte des japanischen kulturellen Erbes ansehen. Den Zusammenhang zwischen der kunsthandwerklichen Form und dem geistigen Gehalt zu entschlüsseln setzt allerdings die Kenntnis der chinesischen und japanischen Literatur ebenso voraus wie die der Ikonographie, die sich in den Darstellungen von Landschaften, Tieren, Personen und Symbolen verbirgt. Hier ist der Beitrag des Sammlers Edmund Lewis, aus dessen Feder auch die eingehenden Beschreibungen der einzelnen Objekte stammen, ein Leitfaden für das Erkennen und die Deutung der klassischen literarischen Themen, der Erzählungen aus der chinesischen und japanischen Geschichte, der Mythen, Allegorien und Legenden aus der diesseitigen und der jenseitigen Welt. Was dem Laien zunächst als gefällige Dekoration erscheint gewinnt für den wissenden und aufgeklärten Betrachter durch die Deutung als Landschaften imaginärer Länder oder von Traumbildern, durch die Identifizierung von Gestalten als Arhats, Bodhisattvas oder Philosophen aus vergangenen Zeiten und durch die Auflösung des Symbolismus der Darstellung von Blumen, Tieren und Bergen, literarischen Gehalt und die Qualität einer Art visueller Poesie. Ein Höhepunkt dieser Kunstform sind Darstellungen, bei denen die in kalligraphischen Zeichen verschlüsselte Poesie einem Vexierbild gleich und nur für den sorgfältigen und erfahrenen Betrachter erkennbar in das auf dem suzuribako dargestellte Bild integriert ist. Aber es ist nicht nur diese intellektuelle Qualität, die diese Objekte so außergewöhnlich macht, sondern auch der handwerklich-technische Hintergrund. Asiatischer Lack – Urushi – ist einzigartig und in seiner technischen Komplexität, den Ausdrucksmöglichkeiten und den dekorativen Varianten mit keinem künstlerischen Medium des Westens vergleichbar. Vor allem ist es der ureigenste japanische Beitrag zu diesem Kunstzweig, das Streubild, maki-e, bei dem der Lackkünstler in die von ihm mit flüssigem Lack angelegte, noch feuchte Darstellung mittels einer Vielfalt an Varianten Goldpulver unterschiedlichster Konsistenz und Tönung einstreut, der den Zauber und die Einzigartigkeit japanischer Lackarbeiten ausmacht. Inkrustationen mit Gold, Elfenbein, Perlmutt oder Porzellan wirken als zusätzliche Akzente für die künstlerische Qualität und die inhaltliche Bedeutung der Bilder. Im Idealfall bildet das gesamte Ensemble der Utensilien für den Kalligraphen, der Reibstein für die Tusche, der Wasserbehälter, Pinsel, Auflage und Papiermesser zusammen mit dem suzuribako einen nicht mehr zu übertreffenden Akkord aus Funktion, Form und Inhalt.

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