Edo – Art in Japan 1615 – 1868

Autor/en: Robert T. Singer
Verlag: National Gallery of Art
Erschienen: Washington 1998
Seiten: 480
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
ISBN: 0-300-07796-3
Kommentar: Michael Buddeberg, Dezember 1998

Besprechung:
Ziemlich genau 100 Jahre ist es her als die Kunst Japans, als Kunstwerke aus der Edo-Zeit, entscheidenden Einfluß auf den Aufbruch europäischer Kunst ins zwanzigste Jahrhundert nahmen. Die Graphik von Toulouse Lautrec, Gemälde von van Gogh, Meilensteine am Anfang der modernen europäischen Kunst, sind ohne das japanische Vorbild nicht denkbar. Und doch blieb diese japani­sche Kunst dem Westen fremd, unzugänglich, weit weniger beachtet als etwa die Kunst Indiens oder Chinas. Nur verhältnismäßig wenige Publikationen, nur eine einzige große Ausstellung in der Royal Academy in London 1981, widmeten sich bisher umfassend der Kunst der Edo-Zeit. Woran mag das liegen? Ist es die vollkommene Abgeschlossenheit Japans, die totale Abschottung gegenüber dem Westen unter den Machthabern der Tokugawa? Wohl nein, denn China war ähnlich abgeschlossen, von den wenigen am Hofe der chinesischen Kaiser arbeitenden europäischen Künstlern abgesehen, und Indien und Südostasien waren auch nicht wirklich zugänglich, denn die Kaufleute der europä­isch-indischen Handelsgesellschaften hatten natürlich nur Gewürze, Textilien, Porzellan oder gar Sklaven im Sinn und nicht die Kunst der von ihnen bereisten Regionen. Der Grund für den schwieri­gen Zugang zur Kunst der Edo-Zeit liegt vielmehr darin, daß in Japan schon im 18. Jahrhundert eine eigenständige, ganz und gar bürgerliche, nach unseren Begriffen durchaus moderne und gleichzeitig sehr elitäre Kunst entstand, für die der Boden und damit das Verständnis in Europa erst 200 Jahre später, eben erst im 20. Jahrhundert reif wurde. Edo – Art in Japan, eine Ausstellung in Washing­ton und das dazu erschienene wahrhaft prächtige Katalogbuch haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Kunst der Edo-Zeit zu präsentieren und zu erklären, und das Ergebnis ist überzeugend. Edo – das heutige Tokio – übernahm unter der Dynastie der Shogun der Tokugawa von der alten Kaiser­stadt Kyoto die führende Rolle in Japan und gab einer Epoche von 250 Jahren Frieden und Prosperität (von 1615 bis 1868), gesichert von 15 Generatioen der Tokugawa, den Namen „Edo“. Was die Samurai nicht wußten und sicher auch nicht wollten war die allmähliche Entstehung eines selbstbewußten und immer reicher werdenden Standes von Bürgern und Händlern in den Städten, vor allem in Edo. Während sich die Samurai mit der stets teurer werdenden Hofhaltung in dem rasch wachsenden Edo herumschlagen mußten, entwickelte sich unter der schnell reicher werden­den Kaufmannschaft, den „nouveau riches“ jener Zeit, eine lebendige neue Kultur, die in Ostasien kein Vorbild hatte. Es entstand im Japan des 18. Jahrhunderts die erste städtische Kultur dieser Welt. Edo selbst entwickelte sich von einer reinen Burganlage im 17. Jahrhundert bis zur ersten Metropole mit weit über einer Million Einwohner am Ende der Edo-Zeit. Während dieser Zeit verlagerten sich Reichtum und Macht von den Herren auf das Volk, von den Adelssitzen auf die städtischen Zentren, von den Burgen der Samurai auf die Großstadt Edo. Im Japan des 18. Jahhunderts vollzog sich eine Entwicklung von einer streng militärisch hierarchisch gegliederten Gesell­schaft zu einer modernen, städtisch geprägten, merkantilen Bürgerschaft. Natürlich übernahmen die neuen Reichen manches von den Samurai, die konsumorientierte, auf Äußerlichkeiten Wert legende Lebensweise, das strenge Rangdenken, nicht aber die chinesischen Wurzeln der materiellen Kultur. Warenaustausch und Konsum vervielfachten sich, es entstand ein hoher Grad an Arbeitsteilung, ein Reichtum an Objekten, eine Verfeinerung des Design, eine extreme handwerkliche Sorgfalt. Wohn­qualität und Luxus nahmen zu und machten nicht einmal vor der Küche halt, die zum Beispiel 55 Arten kannte, einen Karpfen zu zerlegen. Aus dem Puppenspiel entwickelte sich das Theater mit Akrobatik, Tanz und Pantomime. Robert T. Singer, Kurator für japanische Kunst am Los Angeles County Museum of Art stellt die Kunst der Edo-Zeit entsprechend dem Verständnis jener Tage, die die Trennung zwischen reiner und angewandter Kunst nicht kannte, auf eine neuartige, didaktisch brillante Weise dar. Er bildet sechs Lebensbereiche – das Ornament, die Samurai, Arbeit, Religion und Feste, Natur und Landschaft, Unterhaltung – und ordnet diesen Bereichen die reiche materielle Kultur der Edo-Zeit zu. So entfaltet sich vor dem Hintergrund japanischen Lebens ein Kaleidoskop feinster Lackarbeiten, von Rollbildern höchster Qualität, der schönsten Holzschnitte von Hokusai, Hiroshige und Utamaro, raffiniert dekorierter Kimonos und Feuerwehrmäntel, Theatermasken, skurri­ler Rüstungen der Samurai, Porzellan und Keramik mit aufregend modernem Design und immer wieder die für die Edo Periode so typischen und ungemein erzählenden Stellschirme, Paare sechs­teiliger Wandschirme zumeist, Höhepunkte japanischen Kunstschaffens dieser Zeit. Das Buch versammelt 281 Objekte, zusammengetragen aus Dutzenden von japanischen Museen, darunter knapp fünfzig, die zu den registrierten Schätzen der japanischen Nation gehören. Edo-Kunst in einer einzigartigen Präsentation – gewiß das beste Buch zum Thema.

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