Protecting Wisdom – Tibetan Book Covers from the MacLean Collection

Autor/en: Kathryn H. Selig Brown
Verlag: Prestel Publishing
Erschienen: München London New York 2012
Seiten: 264
Ausgabe: Hardcover mit Goldschnitt im Leinenschuber
Preis: USD 95,00
ISBN: 978-3-7913-4765-1
Kommentar: Michael Buddeberg, September 2013

Besprechung:
Das altehrwürdige, im Jahre 1073 gegründete buddhistische Kloster Sakya in Zentraltibet hat als eines der ganz wenigen in Tibet die Zerstörungswut der Kulturrevolution weitgehend unbeschadet überstanden. Das gilt auch für seine unermesslichen Schätze, die auf die Zeit der größten Machtfülle des Sakya-Ordens im 13. Jahrhundert zurückgehen, als enge Beziehungen zu den mächtigen mongolischen Herrschern der Yuan-Dynastie bestanden und es einen regen Pilgerverkehr zwischen China und Tibet gab. Die eindrucksvolle Bibliothek, die sich hinter dem Hauptaltar des Lakhang Chenmo, der großen Versammlungshalle, mit unüberschaubar zahlreichen, zwischen schweren, beschnitzten und vergoldeten Buchdeckeln und in Brokat gewickelten Bänden im Dunkel des hohen Tempels verlor, war nur einer dieser Schätze. Die von chinesischen Pilgern seit dem 13. Jahrhundert dem Orden als Votivgaben überlassenen Ess- und Trinkschalen aus Porzellan waren ein anderer. Dutzende, nein, hunderte einfacher Schalen, meist blau-weiß, oft auf hohem Fuß, jede ein frühes Kunstwerk, bildeten eine weltweit einzigartige Sammlung, die in einer langen Reihe von Schreinen in der Versammlungshalle als heiliger und verehrungswürdiger Besitz des Klosters präsentiert wurde. Das war so bis 1997 als Regierungsbeamte mit einem LKW vorfuhren und das Porzellan sorgfältig verpackt mit sich nahmen, wie ein Mönch dem Rezensenten unter Tränen berichtete; der Verbleib des Schatzes von Sakya ist bis heute nicht bekannt. Etwa zur gleichen Zeit wurde die Bibliothek, wohl eine der bedeutendsten und ältesten Tibets, mit einer massiven Bretterwand vernagelt. Ein schweres Vorhängeschloss und Unmengen von Stacheldraht verwehren seither jeden Zugang. Möglicherweise erlitt die Bibliothek seither das gleiche Schicksal wie das Porzellan. Nicht nur den Mönchen von Sakya, auch der Wissenschaft wird durch die staatlich betriebene Auslöschung der einst blühenden tibetischen Hochkultur ein wichtiges Forschungsfeld entzogen oder doch wesentlich erschwert. Das großartige Buch über tibetische Buchdeckel der Sammlung MacLean ist, so gesehen, auch ein Mahnmal für diese im 20.Jahrhundert begonnene und bis heute fortdauernde Zerstörung tibetischer Kultur. Von den einst in tibetischen Klosterbibliotheken zu hunderttausenden existierenden Zeugnissen einer nicht nur spirituell, sondern auch kunsthandwerklich bemerkenswerten materiellen Buchkultur haben sich nur Bruchteile erhalten, so dass sich Alter, Herkunft und vor allem der verlorene Inhalt der zu dessen Schutz gefertigten Buchdeckel mangels ausreichender Vergleichsstücke kaum je exakt bestimmen lassen. Ein Vergleich mit archäologischen Artefakten, die – einmal aus ihrem Fundzusammenhang entfernt – nur schwer zu entschlüsseln sind, drängt sich auf. Doch ungeachtet all dieser kritischen Gedanken ist „Protecting Wisdom“, sieht man von dem 1991 erschienenen – und bis heute erhältlichen – Katalog „Tibetische Buchdeckel“ der Bayerischen Staatsbibliothek aus der Feder von Günter Grönbold und dem 1996 von Rossi & Rossi in limitierter Auflage erschienenen Ausstellungs- und Verkaufskatalog einmal ab, das erste umfassende, wissenschaftlich fundierte und mit wunderbaren, auch im Detail fotografierten Exemplaren tibetischer Buchdeckel versehene Buch über eine tibetische Kunstform, die sich in ihrer Ausdruckskraft und Kunstfertigkeit ohne weiteres mit tibetischer Malerei und Skulptur messen lassen kann. Tibetische Buchdeckel sind eine bis heute weitgehend verborgene Kunstform, die bisher kaum kunsthistorische Beachtung fand, obwohl sie die herausragende Bedeutung des Buches in der tibetischen Kultur in unübertroffener Weise zum Ausdruck bringt. Die Einführung eines tibetischen Alphabets durch den ersten historischen König Songtsen Gampo im 6. Jahrhundert n.Chr., die Übersetzung indischer Texte aus dem Sanskrit durch seine Nachfolger und das Kopieren von Palmblattmanuskripten aus Indien sind Schritte zu einer spezifisch tibetischen Innovation materieller Buchkunst und Buchkultur, die mittlerweise auf eine tausendjährige Geschichte zurückblicken kann. Die Bedeutung des Buches in Tibet kann nicht hoch genug eingeschätzt werden und ist bis heute im kultischen Leben Tibets präsent. Bücher werden in feierlichen Prozessionen um Tempel getragen, kunstvoll gearbeitete Bücherregale für die vielbändigen buddhistischen Schriften des Kanjur und Tanjur stehen an bevorzugten Plätzen in Tempeln und Versammlungshallen und sind so beschaffen, dass Pilger in demütig gebückter Haltung unter ihnen hindurchlaufen können, um so an der Aura von Weisheit teil zu haben. Bücher nehmen auch heute noch einen Ehrenplatz in tibetischen Haushalten und sogar in Nomadenzelten ein.

Die in mehr als einem Jahrzehnt zusammengetragene und in dem Buch vorgestellte Sammlung von Barry und Mary Ann MacLean umfasst knapp siebzig Beispiele dieser Kunstform vom 11. bis zum 19. Jahrhundert. Die einen Stapel loser, als Manuskript beschriebener und später im Blockdruck bedruckter Papierblätter oben und unten schützenden Deckel aus meist exotischen Harthölzern sind, ein- oder zweiseitig, bemalt, vergoldet, profiliert, mit Texten versehen, vor allem aber überaus reich mit Darstellungen von Buddha, buddhistischen Gottheiten und Bodhisattvas, mit Ornamenten, Ranken und ikonographischem Beiwerk beschnitzt. Der Schwerpunkt der Sammlung und zugleich die Höhepunkte dieser Kunstform liegen im 13. bis 15. Jahrhundert, und was die in der Regel anonymen Kunsthandwerker an Ausdruck, feinsten Details und oft liebevollem Beiwerk aus dem widerspenstigen Material herausgearbeitet haben, ist atemberaubend und durch die oft seitenfüllenden Vergrößerungen perfekt nahegebracht. Der ausführliche Text vom Kathryn Selig Brown, einer Kunsthistorikerin mit dem Schwerpunkt Tibet, befasst sich mit dem Umfeld und der Entwicklung dieser Kunstform und vor allem mit den Möglichkeiten der Datierung und der stilistischen Einordnung tibetischer Buchdeckel. Die in allen Bereichen vorhandene Problematik der Datierung tibetischer Kunst, wo oft über Jahrhunderte an alten Traditionen festgehalten und Altes immer wieder kopiert wurde, und der eklatante Mangel an Vergleichsmaterial lassen die Entstehung solcher Werke oft nur in einen weiten Zeitraum von ein bis zwei Jahrhunderten einordnen. Auch lokale und stilistische Besonderheiten können allenfalls erahnt oder vermutet werden. So versteht sich das Buch auch in erster Linie als eine Anregung zu weiterer Forschung und als ein Aufruf zur Öffnung der für die Wissenschaft bis heute verschlossenen Bibliotheken Tibets. Die Qualität der Sammlung MacLean und die Sorgfalt bei der Herstellung und Gestaltung des Buches machen es mit Sicherheit für lange Zeit zum Standardwerk dieses wichtigen und faszinierenden Bereichs tibetischer Kultur, der materielle Kunstfertigkeit und spirituelle Bedeutung ideal vereint.

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