Tibet – A History

Autor/en: Sam van Schaik
Verlag: Yale University Press
Erschienen: New Haven and London 2011
Seiten: XXIV, 324
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: USD 35.–
ISBN: 978-0-300-15407-7
Kommentar: Michael Buddeberg, Mai 2011

Besprechung:
Sam van Schaik beginnt seine Geschichte Tibets mit der Frage: Wo ist Tibet? Die Antwort scheint einfach, doch das vom Autor aus praktischer Erfahrung erzählte Beispiel, in welchem Regal Bücher über Tibet im Buchladen zu finden sind, zeigt die Berechtigung dieser Frage. Wählt der Buchhändler das China-Regal, wird man ihm politischen Opportunismus vorwerfen, wählt er den Buddhismus als Ordnungsbegriff, bleiben Geographie und ethnische Fragen auf der Strecke. Auch ein Blick auf Karten und Atlanten gibt keine klare Antwort. Die Autonome Region Tibet, eine Provinz Chinas innerhalb der am südlichen Rand des Himalaya nicht einmal klar definierten Landesgrenzen zu Indien, erfasst nur einen kleinen Teil des von hohen Gebirgen gesäumten tibetischen Hochlandes, in das sich darüber hinaus die chinesischen Provinzen Qinghai, Sichuan, Gansu und Yünnan, die Länder Nepal und Bhutan und die zu Indien gehörenden Enklaven Ladakh und Sikkim teilen. Die Antwort auf diese Frage und damit die Debatte über Tibets Identität ist eine dauerhafte Kontroverse extrem unterschiedlicher Standpunkte. Während China darauf besteht, dass Tibet stets ein Teil des Reichs der Mitte war und sich auf den Lauf der Geschichte beruft, kontern die Tibeter gleichfalls mit ihrer Geschichte und pochen auf ihre seit jeher bestehende Eigenstaatlichkeit und die jedenfalls in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehende Souveränität. Diese Kontroverse hat aber noch eine weitere Dimension: War Tibet ein Ort der Sklaverei, wo Leibeigene mit mittelalterlichen Qualen in ein den Adel und das Mönchstum privilegierendes System gepresst wurden, eine „Hölle auf Erden“, wie die Chinesen zur Rechtfertigung ihrer vermeintlichen Befreiung Tibets sagen, oder war es ein spirituelles Paradies, in dem glückliche und mitfühlende Menschen nach der Erlösung von irdischem Leid strebten? Wie stets sind alle diese Klischees falsch, und eine zuverlässige Antwort kann nur aus der genauen Kenntnis der Geschichte Tibets versucht werden. Hierfür ist van Schaiks Buch ein vorzüglicher Einstieg. Zwar finden sich in sehr vielen ernsthaften Büchern über Tibet mehr oder minder ausführliche Kapitel über die Geschichte, und auch über die Einführung und Entwicklung des Buddhismus in Tibet, die Ausbildung spezifisch tibetischer Ausdrucksformen in der Kunst, die Lebensgeschichte der Dalai Lamas und anderer bedeutender Tibeter wurde schon vieles geschrieben. Doch eine derart lebendig erzählte Geschichte Tibets, in der nicht nur Fakten und Daten aneinandergereiht, sondern lebendige Geschichten und Anekdoten erzählt werden, die über die dunklen Zeiten ebenso berichtet wie über strahlende Höhepunkte im Laufe der Jahrhunderte und die mit Einfühlungsvermögen Schwerpunkte setzt, hat es bisher noch nicht gegeben. Das konnte nur gelingen weil es in Tibet stets eine überaus lebendige Tradition der Geschichtsschreibung gegeben hat, weil anonyme Autoren ebenso wie namentlich bekannte Gelehrte profane ebenso wie religiöse Ereignisse und Erlebtes aufgezeichnet haben und weil van Schaik diese Quellen ausgewertet und in sein Buch hat einfließen lassen. Beginnend mit dem ersten Auftreten Tibets auf der historischen Bühne durch den genialen König Songtsen Gampo im siebten Jahrhundert bis zum aktuellen Nebeneinander zweier Tibet in aktueller Zeit, des chinesischen und des Tibet im Exil, beschreibt van Schaik in zehn Kapiteln den Lauf der Geschichte Tibets. Und immer dort, wo der Kontakt mit dem Nachbarn China enger wurde, gleichgültig ob friedlich oder kriegerisch, ob auf spiritueller, politischer oder auf der Ebene des bloßen Austauschs von Gütern oder Ideen, wird van Schaik ausführlich und eröffnet einen Blick auf das komplexe und sich immer wieder wandelnde Beziehungsgeflecht dieser beiden Länder. Das beginnt damit, dass sich Songtsen Gampo eine chinesische Prinzessin zur Frau nahm, ein Faktum, das China für seine Ein-Land-Theorie nutzt, während es tatsächlich ein durch militärischen Druck erzwungener Tribut des Tang-Kaisers Taizong an Songtsen Gampo war, reine Machtpolitik also und geschickte Diplomatie zugleich. Die lebendig erzählte Story vom trickreichen Werben tibetischer Gesandter am Hofe der Zweimillionenstadt Changan um die Hand dieser Tang-Prinzessin für den machtvollen König in Lhasa liest sich wie ein spannender Roman. Ähnliches gilt für die engen Beziehungen des aristokratischen tibetischen Clan von Sakya zum mongolisch-chinesischen Kaiser Kublai Khan. Auch hier war die geschichtliche Wirklichkeit eine ganz andere als die heute von China vertretene Version, dass schon damals Tibet ein Teil Chinas war. Die mongolischen Herrscher der Yuan-Dynastie sahen sich nie als Chinesen und waren auch keine, und Tibet, ja nicht einmal Sakya, war, wie andere chinesische Provinzen, jemals eine Verwaltungsprovinz in Kublai Khans Reich. Auch die Zeit der Qing-Dynastie – wiederum hatten Fremde, die Reiternomaden der Manchu, die chinesische Kaiserwürde an sich gerissen – und des im 19. Jahrhundert einsetzenden „Great Game“ zwischen Russland, China und Britisch-Indien um die Macht in Zentralasien, bei dem Tibet eine wesentliche Rolle spielte, war eine Zeit wechselnder Machtverhältnisse, ein Akt der Balance, wie der Autor schreibt. Dem Great Game und den wechselnden Machtverhältnissen setzt Tibet 1911 ein Ende, als es die chinesischen Ambane – politische Beobachter – aus Lhasa und Tibet vertrieb. Das sich anschließende Versäumnis der tibetischen Führung, dem Status der Selbständigkeit auch internationale Anerkennung zu verschaffen, ermöglichte Mao Tsetung im Jahre 1950 den militärischen Überfall auf Tibet und dem Westen, den Hilferuf Tibets zu ignorieren. Wie auch immer diese Geschichte ausgehen wird, van Schaiks Geschichte Tibets zeigt anschaulich, dass die Tibeter in ihrer Auseinandersetzung mit ihren Nachbarn nicht anders waren als andere Menschen und Völker, dass Tibet, wie andere Länder auch, fast immer ein gefährlicher Platz war, wo es angebracht war, nur bewaffnet zu reisen und dass – auch wenn die Neuzeit Tibet etwas später als anderswo erreichte – Tibet niemals nur ein Mythos oder auch nur eine isolierte Weltgegend, sondern stets in die Weltgeschichte eingebunden war.

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