Tsha-Tsha – Votivtafeln aus dem tibetischen Kulturkreis – Sammlung Christian Lutz

Tsha-Tsha – Votivtafeln aus dem tibetischen Kulturkreis – Sammlung Christian Lutz

 

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Autor/en:        Wendelgard Gerner

Verlag:           Arnoldsche Art Publishers

Erschienen:    Stuttgart 2018

Seiten:            352

Buchart:         Hardcover

Preis:              € 78,00

ISBN:             978-3-89790-453-8

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Besprechung:

Tsa-Tsa-Herstellung in Riwoche, Foto: M. Buddeberg 2002

 Von den unvergesslichen Erlebnissen und Eindrücken vieler Reisen in Tibet ragt eines ganz besonders hervor: Wir näherten uns aus der Region des Amnye Machen kommend dem  Riwoche Tsuklakhang. Ein großer weißer Chörten signalisierte die Nähe des Tempels. Schon war der mächtige dreistöckige Kubus mit seinem in chinesischer Art geschwungenen Dach in der Ferne erkennbar als bei einer Gruppe massiver, fensterloser und quadratischer Steinbauten, den so genannten Tsakhangs, vielfältige Aktivitäten unsere Neugier weckten. Männer waren dabei, aus Bruchsteinen einen neuen Tsakhang zu errichten, junge Burschen bearbeiteten grauen Ton, um ihn geschmeidig zu machen und auf jedem freien Platz standen kleine, aus Ton geformte Stupas zum Trocknen in der Sonne – es müssen Tausende gewesen sein. Unweit davon, im Schatten einer Reihe von Chörten war eine Gruppe Frauen und Mädchen fröhlich singend damit beschäftigt, mit Modeln aus Bronze solche Stupas zu formen. Unser Interesse wurde mit der spontanen Aufforderung beantwortet uns zu ihnen zu setzen und ebenfalls Stupas zu formen. Schnell waren wir angeleitet, haben Tonstupas in Modeln geformt und als finalen Akt Papierröllchen mit Mantras in den noch weichen Ton gedrückt. Das ganze Dorf war mit der Herstellung des neuen Tsakhang und seines vieltausendfachen Inhalts und damit dem Erwerb spirituellen Verdienstes beschäftigt. Auch wir waren glücklich, etwas für unser Karma getan zu haben.

 Was es in Tibet mit den Tsakhangs und seinem Inhalt und überhaupt mit den im ganzen buddhistischen Kulturkreis allgegenwärtigen kleinen Objekten aus Lehm oder Ton – den Tsa-Tsas – auf sich hat, das kann nun erstmals und in beeindruckender Tiefe und Vollständigkeit in einem großartigen Katalogbuch gelesen, studiert und in vielhundertfachen Variationen bestaunt und bewundert werden. Die von dem Schweizer Sammler Christian Lutz zusammengetragene Kollektion von etwa 500 Tsa-Tsas ist nach der fachkundigen Meinung von Rinpoche Sherab Dagyab (Tibethaus Deutschland) die wohl größte Sammlung von Tsa-Tsas im Westen und ein grandioser Überblick über die Vielfalt, handwerkliche Präzision und oft auch künstlerische Qualität der zwischen wenigen Zentimetern und, in Form von Schreinen, auch bis zu einem halben Meter und mehr messenden religiösen Verehrungsobjekte. Sie decken einen Zeitraum von 5. bis zum 20. Jahrhundert ab und stammen nicht nur aus Tibet, sondern aus dem gesamten buddhistischen Kulturkreis, aus Nordindien, Pakistan, dem Swat, aus Ladakh und Zanskar, aus Mustang, Nepal, Bhutan, China, der Mongolei bis hin nach Burma, Thailand und Java. Luftgetrocknet oder gebrannt, vollplastisch – so etwa die Stupas – oder als Relief, in feinster, detailgetreuer Ausführung oder durch ehrwürdiges Alter verwittert und patiniert, mit Inschriften versehen, bunt bemalt oder sogar vergoldet, vermittelt die Sammlung einen kaleidoskopartig reichen Eindruck einer tibetisch-buddhistischen Kleinkunst, die von der Forschung bisher weitgehend vernachlässigt wurde. Ergänzt wird dies noch durch einige Dutzend der seltenen, meist in Bronze im Wachsausschmelzverfahren hergestellten Model, eine in dieser Anzahl und Vielfalt wohl ebenfalls einzigartige Kollektion.

Tsa-Tsa-Höhle In Tsaparang, Foto: M. Buddeberg 1995

Ist schon das bloße Blättern und Ansehen eine wahre Augenweide, so wird sie durch die sorgfältigen Objektbeschreibungen, vor allem aber durch den einleitenden Text aus der Feder der Religionswissenschaftlerin und passionierten Tibetologin Wendegard Gerner noch übertroffen. Der immerhin ein Viertel des opulenten Bandes ausmachende Text macht dem Leser bewusst, dass den Tsa-Tsas außer ihrer Schönheit, ihrer oft künstlerischen Ausführung, ihrem Alter und der Seltenheit eine tiefergehende geistige Qualität inne wohnt, die den kleinen Tontäfelchen seit jeher und bis heute eine herausragende Bedeutung im Lebensalltag der Tibeter verleiht. Ist schon die Herstellung von Tsa-Tsas eine Quelle für religiösen Verdienst, so sind die Bildinhalte der Tonobjekte, vor allem aber deren vielfältige Verwendung und Bedeutung im buddhistischen Leben für die Autorin Anlass, zahlreiche Aspekte dieser Religion vertieft aber auch für den Laien verständlich zu behandeln. Das beginnt mit dem Stupa als dem ältesten buddhistischen Kultbau, seiner Entwicklung im tibetischen Raum bis zur Erklärung der acht verschiedenen Stupa-Formen, die an wichtige Lebensstationen des historischen Buddha erinnern. Breiten Raum widmet die Autorin dann den figürlichen Motiven der Tsa-Tsas, gleichsam eine Einführung in die Hautevolee des tibetischen Pantheons von Buddha Shakyamuni, den fünf Tathagatas, Bodhisattvas, friedfertigen und zornvollen tantrischen Gottheiten bis hin zu historischen Personen wie Padmasambhava oder dem Brückenbauer Thangton Gyelpo. Ihre Ikonographie, ihre Hand- und Sitzhaltungen und ihre Attribute, die von den miniaturhaften Tsa-Tsas in der Regel erstaunlich originalgetreu wiedergegeben werden, vor allem ihre philosophische Bedeutung werden erklärt. Mindestens ebenso vielfältig ist die Verwendung des Tsa-Tsas als Votivgabe, als Dankeszeichen für eine Spende oder als Erinnerung an eine Pilgerreise, als Amulett zu Abwehr des Bösen und als Schutz vor den Naturgewalten und schließlich ihre Verwendung im Totenritual. Jede dieser und noch vieler weiteren Verwendungen dient vordergründig der Verbesserung des Karmas, beim Totenritual etwa, um dem Verstorbenen den Aufenthalt im Zwischenreich Bardo zu erleichtern und für ihn eine bessere Widergeburt zu erlangen. In letzter Konsequenz aber sind Tsa-Tsas ein Mittel, den eigenen Geist zu entfalten und in die Lage zu versetzen, zu erkennen, dass alle Dinge, mögen sie in der Welt der Erscheinungen nach außen auch real und wirklich scheinen, in Wahrheit jedoch leer sind. Hierzu passt die von historischen Tibetreisenden wiederholt berichtete mönchische Praxis, Tsa-Tsa-Model wieder und wieder in fließendes Wasser einzutauchen in der Vorstellung, dass auf diese Weise ungezählte Bildwerke aus Wasser geformt werden. Diese Form von Tsa-Tsas wird man allerdings in der Sammlung und ihrem Katalog vergeblich suchen.

(Die Sammlung Christian Lutz, für deren Publikation zwei weitere Bände  bereits angekündigt sind und auf die man nach dem gelungenen Band über die Tsa-Tsas gespannt sein kann, soll  nach dem abgedruckten Geleitwort des Dalai Lama in einem Museum der Öffentlichkeit zugänglich sein. Leider sind weder im Buch noch im Internet nähere Hinweise zu diesem Museum zu finden).

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