NAGA – Awe-Inspiring Beauty

NAGA – Awe-Inspiring Beauty

 

Autor/en:        Michel Draguet

Verlag:           Marcatorfonds, Yale University Press

Erschienen:    Brüssel, New Haven und London, 2018

Seiten:            424

Buchart:         Leinen mit Schutzumschlag

Preis:              GBP 75,00

ISBN:             978-0-300-23325-4

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

Besprechung:

 „Ich bin Sammlerin …“ – mit diesem Bekenntnis zur Lust an der Entdeckung, der fast manischen Suche nach dem immer besseren Objekt, der Vervollkommnung der Sammlung und dem Streben nach deren Einzigartigkeit beginnt das Vorwort von Anne-Marie Gillion Crowet, das dem Buch über ihre Sammlung der zentralen Kult- und Schmuckobjekte einer untergegangenen Kultur vorangestellt ist. In Zeiten, wo Provenienz und Restitution, die legale Herkunft und die Rückerstattung illegal erlangter Artefakte die Diskussionen über die Kunst indigener Kulturen dominieren, mag ein solches Bekenntnis fast frivol erscheinen. Ist das Bestreben, ist die Leidenschaft, der künstlerischen Kreativität einer ums befremdlichen Kultur ein Denkmal zu setzen, ihre Schönheit und Bedeutung bekannt und verständlich zu machen und die Schätze dieser bereits untergegangenen Kultur zu bewahren eine ausreichende Rechtfertigung?

Es geht um die Kunst der Naga, jenes schwer durchschaubaren Konglomerats eingeborener Stämme und Dorfrepubliken im unzugänglichen Dschungel- und Bergland zwischen dem Osten Indiens, China und Birma. Mit der britischen, im 19. Jahrhundert etablierten Kolonialherrschaft über Indien, mit grausamen militärischen Strafexpeditionen, mit einer fast vollständig vollzogenen Christianisierung der Nagas durch amerikanische Baptisten und nicht zuletzt durch die oft brutale Integration der Nagas in den jungen indischen Staat ab 1947 ist die komplexe Kultur der Nagas heute so gut wie ausgelöscht. Die Reanimierung von Ritualen, Tänzen, Initiationsriten und kunsthandwerklichen Techniken für touristische Zwecke vermag daran nichts zu ändern. Diese totale Kappung der Nagas von ihren historischen, kulturellen und religiösen Wurzeln ist nun ausgerechnet eine unmittelbare Folge ihrer maßgebenden metaphysischen Grundlage, der Kopfjägerei. Dieser ganz Nagaland einst beherrschende Brauch, so viele Köpfe wie möglich von Feinden zu erbeuten und zu sammeln, um so die eigene Kraft, die Fruchtbarkeit und das Wohlergehen zu mehren, war für westliche Militärs, Missionare und Politiker Rechtfertigung genug, um mit jeder nur denkbaren Härte und Grausamkeit gegen die Nagas vorzugehen.

Anne-Marie Gillion Crowet, bekannt vor allem durch die mit ihrem Ehemann, dem Brüsseler Unternehmer und Mäzen Baron Roland Gillion Crowet aufgebaute Art-Nouveau-Sammlung im Musée-Fin-de-Siecle in Brüssel, begegnete vor mehr als zwanzig Jahren erstmals Naga-Objekten und war von deren Eigenart, Ästhetik und hintergründigen Bedeutung so fasziniert, dass der Aufbau einer Sammlung spontan zur Leidenschaft wurde. Der nun vorliegende, opulent gestaltete Prachtband zeigt 350 Objekte der Sammlung in großartigen, meist seitengroßen Abbildungen des Fotografen und Sammlers Paul Louis und es bedarf keiner großen Phantasie, hier die weltweit bedeutendste und niemals mehr zu übertreffende Sammlung von Objekten der untergegangenen Naga-Kultur vor sich zu haben. Bildmäßig begleitet wird dieses Kaleidoskop an Form, Farbe und Material mit historischen Fotografien vor allem des österreichischen Ethnologen Christoph von Fürer-Haimendorf (1909-1995) aus den Jahren 1936 und 1937 und von Aquarellen des britischen Leutnants Robert Gosset Woodthorpe (1844-1898) aus den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts.

Bietet schon das bloße Blättern und Schauen einen aufregenden Einblick in eine fremde und faszinierende Welt, so erschließt sich die wahre Bedeutung dieser Sammlung erst durch den unbedingt lesenswerten Text. Neben einer Einführung des Sammlers und Tribal-Art-Händlers Pierre Loos, die vor allem die Sammlerin und das Werden ihrer Sammlung würdigt und neben anderen Geschichten auch über einen Schatzfund versteckter und vergessener Objekte aus Nagaland berichtet, ist es vor allem der in fünf  Kapiteln und zahlreichen Abschnitten die Bilder begleitende Text des Kunsthistorikers und Direktors des Königlichen Museums der Schönen Künste in Brüssel, Michael Draguet, der den Leser umfassend in die Lebenswelt und einstige Kultur der Nagas einführt. Hier wird klar, warum Ketten, Ohrringe, Armreifen, Gürtel und allerlei andere Accessoires unter Verwendung von Muscheln, Bein, Koralle, Glasperlen, Tigerzähnen, Bambus oder Federn neben den von Köpfen dominierten Objekten, vorwiegend aus Holz oder Bronze eine eher nebensächliche Rolle spielen. Die Kopfjagd war das heilige Band, das die Nagas mit ihrer Lebensenergie und dem Universum verband. Headhunting war das Herz der Nagakultur, Kern des Fruchtbarkeitskultes und ein wesentlicher Faktor des individuellen und kollektiven Wohlstandes. Rituale und Verdienstfeste bestimmten das Gemeinschaftsleben der Stämme und Dörfer. Die dabei zur Schau gestellten aus Holz geschnitzten oder aus Bronze in der verlorenen Form gegossenen Köpfe als Substitute erbeuteter Trophäen waren wichtiges Identitäts- und Statussymbol. Als Kunst waren sie weder gedacht noch von den Nagas als solche empfunden. Und dennoch besitzen sie eine Individualität, die Handschrift ihres anonymen Schöpfers, die sie unserem westlich geschulten Auge als große oder weniger große Kunst offenbaren. Draguet versteht es, dem Leser diese zwiespältige Sicht auf ethnographische Objekte bewusst zu machen. Eine Rechtfertigung für die Sammlung und deren großartige Publikation ist dies allemal.

 

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