Tibetan Houses – Vernacular Architecture of the Himalayas and Environs

Tibetan Houses – Vernacular Architecture of the Himalayas and Environs

 Autor/en:        Peter Herrle, Anna Wozniak

Verlag:           Birkhäuser Verlag

Erschienen:    Basel 2017

Seiten:            302

Buchart:         Hardcover

Preis:              € 79,95

ISBN:             978-3-0356-1031-4

 

Kommentar:  Michael Buddeberg

 

 Es gibt Bücher, die erst wenn sie erschienen sind bewusst machen, wie sehr sie gefehlt haben. Das Buch „Tibetan Houses“ ist so ein Buch. Es ist ein auf sorgfältiger Feldforschung beruhendes und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Buch über die profane Architektur der von tibetischer Kultur geprägten Länder und Regionen des Himalaya, ein Solitär der Tibetliteratur. Die buddhistische Kunst Tibets, vorzugsweise in Form von Skulptur und Malerei, ist seit Jahrzehnten Gegenstand internationalen Interesses. Bedeutende private und öffentliche Sammlungen von Bronzebildnissen tibetischer Gottheiten, von Ritualobjekten oder von Rollbildern, den Thangkas, wurden als Bildbände, Kataloge oder wissenschaftliche Werke in kaum überschaubarer Anzahl publiziert. Auch frühe Wandmalereien in Tempeln und Klöstern, die die Zeiten überdauert haben, sind mittlerweile fast alle in sorgfältig herausgegebenen und reich illustrierten Bänden zu bewundern. Sogar die über dem Interesse an buddhistischer Kunst zunächst vernachlässigte materielle Kultur Tibets ist in den letzten zwei Jahrzehnten durch Bücher über Schmuck, Bekleidung, Waffen, Pferdezubehör, Möbel, Textilien und Teppiche gut erschlossen und schließlich hat die sakrale Architektur tibetischer Tempel und Klöster der zentralen tibetischen Provinzen Ü und Tsang durch das monumentale Werk von Michael Henss ein einzigartiges publizistisches Denkmal erhalten. Doch über einen wichtigen Bereich dieser materiellen Kultur, über die Häuser der Bauern und Bürger in Tibet, gab es bisher so gut wie nichts zu lesen und zu sehen.

Der hier mit Beispielen profaner Baukultur erfasste tibetische Kulturraum erstreckt sich über 2500 Kilometer, von Ladakh im Westen bis in die chinesische Provinz Sichuan im Osten. Häuser aus den zentraltibetischen Regionen Tsang und Ü sind ebenso berücksichtigt wie Bauten in den alten tibetischen Ostprovinzen Kham und Amdo. Das Königreich Bhutan sowie die entlegenen nepalischen Regionen Khumbu und Dolpo liegen dann schon südlich des Himalaya-Hauptkammes, sind aber ebenfalls dem tibetischen Kulturraum zuzurechnen. Für ein solch riesiges Gebiet scheinen neunzehn sorgfältig beschriebene Objekte eher wenig und kaum repräsentativ und doch haben sie bei aller Verschiedenheit eine Gemeinsamkeit: Jedes der Häuser hat einen der Verehrung buddhistischer Gottheiten und dem Wohlwollen lokaler Geister gewidmeten Andachtsraum, ausgestattet mit Buddhafiguren, Thangkas und Büchern. In großen Häusern ist darüber hinaus noch ein Raum für den Aufenthalt von Mönchen vorgesehen, die regelmäßig Rituale unter anderem für gute Ernten und die Gesundheit der Bewohner und ihrer Yaks und Ziegen verrichten, und selbst in einem bescheidenen Haus in Dolpo, das außer Stall und Vorratskammern nur einen einzigen Wohn-, Küchen- und Schlafraum besitzt, mahnt ein Schrein an die Allgegenwart Buddhas. Tibetische Häuser sind Teil der tibetischen Kultur, die in jeglicher Erscheinungsform durch eine tief gehende buddhistische Volksfrömmigkeit geprägt ist.

Die Autoren und das beteiligte Forschungsteam, allesamt Architekten mit Engagement und Erfahrung in Dritte-Welt-Ländern haben in ihrer vieljährigen Feldarbeit, unterstützt von Studenten  der TU Berlin, ganze Arbeit geleistet. Die Beschreibung der neunzehn als jeweils typisch für ihre Region ausgewählten Häuser könnte besser, gründlicher und instruktiver nicht sein. Den sechs Schwerpunktregionen, Ladakh, Zentraltibet (Ü und Tsang), Osttibet (Kham und Amdo), Bhutan, Khumbu und Dolpo, sind einleitende Kapitel vorangestellt, die, unterstützt mit Fotos und Karten einen Einblick in die geographischen und klimatischen Verhältnisse geben, ebenso wie über wichtige historische Fakten und Siedlungsstrukturen. So eingestimmt gerät die Beschreibung der einzelnen Häuser zu einer Entdeckungsreise nicht nur in die Architektur und Struktur der Häuser, sondern auch in die Lebenswelt ihrer Bewohner. Natürlich wurden die Bauten genau vermessen, das Baumaterial und konstruktive Details festgestellt und in maßstabsgerechte Grundrisse, gezeichnete Ansichten sowie Schnitt- und Detailzeichnungen umgesetzt. Darüber hinaus wurden die Bewohner, aber auch Handwerker, Baumeister, Astrologen und Mönche befragt, um eine möglichst vollständige Erzählung von der Geschichte und Nutzung des Hauses und seiner Funktionalität zu gewinnen. Die Lage in der Landschaft oder im Verhältnis zu anderen Bauten im Dorf oder der Stadt wird durch Lagepläne und Fotografien erläutert, der Leser erhält Informationen über die Familie, die das Haus bewohnt, ihre soziale und gesellschaftliche Stellung, die Anzahl der Tiere oder die Größe der Felder und deren Früchte, die die wirtschaftliche Lebensgrundlage bilden und über die funktionale Nutzung und Zuordnung von Vorrats-, Wohn-, Schlaf- und Andachtsräumen und den fast immer vorhandenen nutzbaren Dachflächen oder Terrassen. Begleitet ist das alles mit isometrischen Ansichten, Zeichnungen, Fotos oder Aquarellen von außergewöhnlichen Details wie etwa Geisterfallen oder Getreidemühlen und schließlich mit atmosphärischen Farbfotografien der eingerichteten und genutzten Räume, die den beschreibenden Text stimmungsvoll und lebendig ergänzen.

Durch Entlegenheit und Isolation konnte sich in Tibet – zumindest bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – eine reiche Architektur-Tradition mit einer erstaunlichen Vielfalt und einer flexiblen Anpassung an lokale klimatische Verhältnisse und verfügbares Baumaterial erhalten. Rohe oder behauene Steine, luftgetrocknete Lehmziegel oder Stampflehm und – wo vorhanden – natürlich Holz, sind die lokalen Baustoffe, die, in der Regel miteinander kombiniert und je nach Rang und Vermögen des Bauherrn mehr oder weniger kunstvoll zu mehrstöckigen Familienresidenzen mächtiger Großgrundbesitzer oder einfachen Hütten von Landarbeitern verarbeitet wurden. Der Reigen ganz unterschiedlicher Bauten, deren Alter von mehreren hundert Jahren bis zu wenigen Jahrzehnten reicht, die aber alle geprägt sind von einer Ökologie des traditionellen Bauens und einer „Architektur ohne Architekten“, basierend auf einer Balance lokal verfügbarer Resourcen und sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, ist eine auf- und anregende Reise durch ein Tibet, dessen traditionelle bauliche Substanz durch die Modernisierung zunehmend gefährdet ist. Ein abschließendes Kapitel mit Beispielen aktueller Neubauten, die traditionelle Elemente mit neuen Baustoffen und neuen architektonischen Ideen  mehr oder – meist – weniger gut kombinieren zeigt, wie außerordentlich wichtig dieses Buch ist.

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