Indian Temple Sculpture

Autor/en: John Guy
Verlag: V&A Publications
Erschienen: London 2007
Seiten: 192
Ausgabe: Leinen mit Schutzumschlag
Preis: 35.– englische Pfund
ISBN: 978-185177-509-5
Kommentar: Michael Buddeberg, Juni 2007

Besprechung:
Das Wort, das Rezitieren heiliger Texte, das nahezu unendliche Wiederholen von Mantras steht im Mittelpunkt indischer Religionsausübung und reicht zurück bis zu den Anfängen brahmanischer Rituale, die sich im Dunkel des 2. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung verlieren. Auch im Buddhismus und Jainismus, den beiden weiteren großen Religionen Indiens, steht das Wort im Zentrum. Wo aber Worte nicht mehr ausreichen, um Gedanken und Träume zu deuten, um übersinnliche Phänomene zu beschreiben, Gottheiten anzubeten oder Dämonen zu vertreiben oder sie zu besiegen kann der Tanz diese Funktion übernehmen. Tanz ist in der indischen Religion wesentlicher Bestandteil des Rituals. Die Pantomimen ritueller Tänze sind lebendiger Kult, heilige Zeremonie und ein Schlüssel zur Religion und Geschichte Indiens. Sie sind aber auch ein Schlüssel zum Verständnis von Form und Bewegung in indischer Kunst im Allgemeinen und eröffnen vor allem einen Zugang zu der ganz eigenen Ausdruckskraft indischer Tempelskulptur. Der enge Zusammenhang zwischen Tanz und Abbild, die Verwandtschaft zwischen der Kunst der Tänzerin oder des Tänzers und der Kunst des Bildhauers, mag jener in Stein arbeiten, in Holz, Elfenbein, Ton oder Metall, ist schon in alten indischen Quellen beschrieben. Beide, Tanzinterpret und Bildhauer, huldigen zunächst der Schönheit, denn – so ist in den alten Schriften zu lesen – Göttlichkeit folgt nahezu von allein, wenn ein Abbild, sei es nun getanzt oder geformt, schön ist. Die andere Qualität, die der Künstler dem Abbild geben muss, ist Vitalität. Beim Tanz ist das kein Problem, doch umso mehr ist es die Aufgabe des Bildhauers, seiner Skulptur vitale Energie, den Atem des Lebens und damit Göttlichkeit zu verleihen. Und in der Tat ist es häufig diese Lebendigkeit, die Anmut einer Körperhaltung oder Handbewegung, die unmittelbare Sinnlichkeit und Lebensfreude, die die Faszination und Schönheit indischer Skulpturen ausmacht und die mehr ist als bloßes Maß, Proportion, ikonographische Exaktheit und die Wiedergabe von Gewand und Schmuck. Dieser Hinweis auf die Zusammenhänge zwischen indischer Tanzkunst und Tempelskulptur ist ein eher kleiner und nebensächlicher, aber, wie mir scheint, ungemein wichtiger Aspekt in der Monographie von John Guy. Der Autor, Seniorkurator für Süd- und Südostasien des Victoria & Albert Museums hat sich die Aufgabe gesetzt, mit diesem Buch einen Zugang zu der scheinbar unbegrenzten und verwirrenden Vielfalt von Bedeutungen und Erscheinungsformen indischer Tempelskulptur schaffen. Ein hochgestecktes Ziel, denn da ist die unglaubliche und nie wirklich festgestellte Anzahl von Göttern, Halbgöttern, Heiligen und Asketen, da huldigen Hinduismus, Buddhismus und Jainismus oft denselben Gottheiten aber in ganz unterschiedlichen Emanationen, da gibt es lokale, aus animistischen Ursprüngen erwachsene Besonderheiten und da ist schließlich die Dynamik einer gelebten und sich stets und rasch wandelnden Religion, wie es der Hinduismus ist. John Guy versucht daher gar nicht erst, das Pantheon der indischen Götterwelt in enzyklopädischer Weise vorzustellen, sondern konzentriert sich auf die fundamentalen Gottheiten und ihre Schlüsselformen, angeführt von Vischnu, der zentralen Gottheit, die das Universum vor den zerstörerischen Kräften schützt, von Schiwa, der Verkörperung kreativer Energie, die aber zugleich auch den Keim der Zerstörung in sich trägt und schließlich von Devi, der Personifikation weiblicher Kraft, um hier nur die wichtigsten zu nennen. Es versteht sich, dass der Autor weit in die Entwicklungsgeschichte indischer Religionen zurückgeht, dass er erklärt, warum sich erst relativ spät, kaum früher als im zweiten oder ersten Jahrhundert vor der Zeitenwende, die Kunst der Tempelskulptur entwickelt und dass er der bildnerischen die architektonische Entwicklung gegenüberstellt. Aus Höhlen und Schreinen entstehen schließlich freistehende Tempel, und deren figürlicher Dekor wird zum integralen Bestandteil von Form und Bedeutung dieser Kultstätten. Die für die monumentale Wirkung bestimmende, flächendeckende Dekoration indischer Tempel erklärt sich aus dieser Symbiose der beiden Kunstformen Architektur und Skulptur. Und, bezeichnend für die fundamentale Bedeutung des Wortes in der indischen Religion, existieren für diesen symbiotischen Zusammenhang mit den so genannten sastras schriftliche, und nur Eingeweihten zugängliche Regeln für die technische und ästhetische Funktion der Skulptur im architektonischen Kontext, so wie es solche sastras auch für den Gesamtzusammenhang aller Künste gibt, womit sich der Kreis bis zur Kunstform des Tanzes wieder schließt. Illustriert wird dieser anspruchsvolle, gründlich recherchierte und kenntnisreiche Text mit knapp zweihundert Abbildungen nicht nur in Form von Aufnahmen von Ritualen, Kultstätten und Tempeln, sondern vor allem mit der weltweit unübertroffenen Sammlung indischer Tempelskulpturen des Victoria & Albert Museums. „Indian Temple Sculpture“ ist ein beeindruckendes Buch über ein komplexes, nur selten und von John Guy ausgesprochen souverän behandeltes Thema.

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